Rebecca nimmt den Hörer in die Hand. Die 32-Jährige aus Schwaben hat schwere Depressionen und möchte sich bei der Telefonseelsorge Hilfe holen. Die Leitung ist besetzt. "Geben Sie nicht auf", sagt eine Stimme auf dem Anrufbeantworter. Rebecca probiert es wieder und wieder. Nach 20 gescheiterten Versuchen kann sie nicht mehr. "Das steigert eine depressive Phase", sagt sie.
Bei der Telefonseelsorge, einem Angebot der Kirchen, das 1956 gegründet wurde, steigen die Anrufversuche deutlich. 2023 konnten von gut 18 Millionen nur noch knapp sieben Prozent beantwortet werden.
Am Standort in München sitzt die ehrenamtliche Seelsorgerin Marilisa (Name geändert) am Schreibtisch in einem Einzelbüro. Die 44-Jährige wartet auf einen Anruf. Gerade sind vier Leitungen frei. Hätte Rebecca in diesem Moment angerufen, wäre sie durchgekommen. Nicht leicht, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen – und Daueranrufenden Herr zu werden. "Es gibt Menschen, die würden gern zwölfmal am Tag mit uns sprechen", sagt Alexander Fischhold, der die katholische Telefonseelsorge in München leitet.
In der Urlaubszeit und im Winter steigt Anrufvolumen
Da klingelt es. Marilisa führt ein 20-minütiges Gespräch mit einer Frau Anfang 30, die sich "im Leben nicht angekommen fühlt". Sie hat eine Angststörung. Marilisa hört lange zu, fasst die Aussagen der Anruferin zusammen und schlägt ihr Atem- und Körperübungen vor. Die Gespräche sind vertraulich, ihre mitgeschriebenen Notizen wird Marilisa nachher schreddern.
Zwischen 16 und 23 Uhr ist Primetime – da finden die meisten Gespräche statt. In der Urlaubszeit im August und im Winter steigt das Anrufvolumen. Die häufigsten Themen: Einsamkeit, depressive Stimmung und familiäre Beziehungen. Vorwiegend ältere Menschen und Frauen rufen an, Jüngere nutzen eher den Chat. Auch eine App namens Krisenkompass gibt es, in der man eine Einordnung der Krise finden kann. Rebecca testet sie, findet Gefallen daran und nutzt sie von nun an jeden Tag.
7.700 Ehrenamtliche deutschlandweit
Der Job verlangt den Ehrenamtlichen emotional viel ab, etwa, wenn jemand mit Pädophilie anruft. "Personen, die schon straffällig geworden sind, haben außer uns oder anderen Telefonstellen keine Möglichkeit, sich irgendwohin zu wenden", sagt sie. Gerade Beraterinnen bekommen es immer wieder mit Sexanrufen zu tun.
Bei etwa acht Prozent der Anrufenden geht es ums Thema Suizid. "Die, die schon auf der Brücke stehen, haben sich das schon sehr, sehr gut überlegt. Gleichzeitig rufen sie nochmal an. Also, die Tür ist einen Spalt offen. Das ist mein Job, meine Berufung vielleicht auch", sagt Marilisa.
Vier Stunden dauert eine Telefonschicht. Wer zum Ehrenamtlichen-Team gehören möchte, muss auch Nachtdienste übernehmen. Deutschlandweit engagieren sich 7.700 Menschen an 104 Standorten als Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger. Die katholische und evangelische Kirche bilden sie in mindestens 120 Stunden aus und betreuen sie mit Fachpersonal.
Ausbau bei sinkenden Kirchensteuereinnahmen schwierig
Die Zahl der Menschen mit depressiven Symptomen ist im vergangenen Jahr gestiegen [externer Link]. Gleichzeitig sind mehr Menschen bereit, über psychische Belange zu reden. Doch in Zeiten sinkender Kirchensteuereinnahmen sei Ausbau oder Weiterentwicklung der Telefonseelsorge schwierig, sagt Alexander Fischhold von der Münchner Stelle im Interview mit dem BR. Eine Warteschleife oder Einsatz von KI könnten die Erreichbarkeit verbessern, doch beides kostet. Die Finanzierung sei in München noch gut, aber er bekommt aus Nachbarstädten mit: "Da werden Stellenanteile gekürzt oder Ehrenamtliche müssen die Fahrtkosten selbst zahlen."
Insgesamt gibt es in Deutschland ein breites Angebot an Sorgentelefonen, die Nachfrage ist nach BR-Recherchen hoch: Darunter die Nummer gegen Kummer für Kinder, Jugendliche und Eltern, das Info-Telefon Depression, es gibt eine Nummer für Opfer von Gewalt, für Missbrauchsopfer oder Schwangere in Not. In der Pandemie kamen der Krisenchat für Jüngere und das Silbernetz für Ältere hinzu. Neu ist ein Angebot für die schwer erreichbare und besonders suizidgefährdete Gruppe der Männer [externe Links].
Lauterbach will zentrale Krisenhotline noch durchbringen
Sozialverbände wie die Aktion Psychisch Kranke (APK) und die Stiftung Depressionshilfe fordern schon länger, dass der Staat eine zentrale Krisenhotline organisiert, unter der all die Angebote gebündelt werden könnten. Das war auch ein Plan der Ampelregierung – im Rahmen des Suizidpräventionsgesetzes.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat vergangene Woche überraschend einen Entwurf dafür vorgelegt, der nun zur Stellungnahme bei den Fachverbänden ist. Die rot-grüne Minderheitsregierung verfügt aber nach dem Koalitionsbruch über keine Mehrheit mehr im Bundestag. Sie ist auf Stimmen der Opposition angewiesen.
Bayerns Krisendienst seit 2021 am Start
Bayern ist den Weg einer staatlichen Krisennummer bereits gegangen: 2021 hat der Freistaat die Krisendienste Bayern etabliert. Unter einer kostenlosen Rufnummer kann man rund um die Uhr anrufen. An den Telefonen sitzen Fachkräfte, etwa Psychologinnen oder Sozialpädagogen, die mit regionalen Anlaufstellen zusammenarbeiten und ein mobiles Team schicken können. Er ist noch nicht so bekannt, 2023 waren es nach Angabe des Krisendienstes 88.111 Anrufe.
Rund 29 Millionen Euro hat der Freistaat nach BR-Recherchen 2023 dafür ausgegeben. Andere Bundesländer könnten sich das nicht leisten, heißt es aus Fachkreisen. Sie sehen neben den Ländern und Kommunen auch die Krankenkassen in der Verantwortung.
Telefonseelsorge günstig für den Staat
Die Telefonseelsorge kostet den Staat kaum etwas, sie wird größtenteils mit Kirchengeldern finanziert. Knapp vier Millionen Euro hat sie nach eigenen Angaben 2022 bayernweit gekostet. Die bundesweiten Ausgaben des Kirchendienstes seien nicht erfasst, heißt es auf BR-Anfrage.
Rebecca versucht es dieses Mal beim Krisendienst Bayern. Nach 30 Sekunden nimmt jemand ab. Rebecca erhält die Nummer eines sozialpsychiatrischen Dienstes in ihrem Ort. Da wird sie es als Nächstes probieren.
Hilfen und Kontakte, wenn Sie Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen:
📞 Notruf: 112
📞 Krisendienst Bayern: 0800 655 3000
📞 Telefonseelsorge: 0800 111 0 111
💬 Krisenchat: www.krisenchat.de
📱 App: Krisenkompass
Redaktioneller Hinweis: Die Zahl der Anrufe 2023 beim Krisendienst wurden nachträglich ergänzt.
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