Zwei US-Soldaten bewachen den Eingang der Heeresmunitionsanstalt St. Georgen (MUNA). Sie stehen am Tor. Ein Schild zeigt "HALT, show trip ticket".
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Zwei US-amerikanische Soldaten bewachen den Haupteingang der Munitionsanstalt (MUNA). Die MUNA wurde 1945 kampflos von US-Truppen eingenommen.

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Vertriebenen-Stadt Traunreut: "Es war wie im Wilden Westen"

Vertriebenen-Stadt Traunreut: "Es war wie im Wilden Westen"

Mitten im Wald auf dem Gelände einer Munitionsfabrik der Nazis entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Flüchtlings-Stadt aus dem Nichts: Traunreut, die zweitgrößte Stadt im Landkreis Traunstein. Ein Zeitzeuge erinnert sich.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Oberbayern am .

Fritz Bantscheff steht am St.-Georgs-Platz in Traunreut, der Nachbarschaft seiner Kindheit. Der 88-Jährige ist als Teil einer deutschen Minderheit in Bulgarien geboren und kam mit acht Jahren über viele Umwege in das heutige Stadtgebiet. Er ist einer der wenigen, die sich noch an das Gelände erinnern, auf dem Traunreut entstanden ist: eine ehemalige Heeresmunitionsanstalt St. Georgen (MUNA) der Nazis. "Als ich das erste mal die MUNA gesehen habe, war hier nur Wald und Sandstraßen und zerbombte Bunker. Es gab einige Häuser, die man in Ruhe gelassen hat, aber ansonsten hat man sich in den Bunkern aufgehalten, nach Trümmern gesucht und gespielt."

Am 3. Mai 1945 wurde die MUNA kampflos von US-Truppen eingenommen. Die übrig gebliebenen Gebäude wurden von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen unter anderem aus den Ostgebieten, dem Sudetenland und Südosteuropa bezogen. Sie lebten und arbeiteten auf einem Waldstück zwischen der Stadt Traunstein und den Gemeinden Stein an der Traun, St. Georgen, Traunwalchen und Pierling – dort, wo wenige Jahre zuvor während des Zweiten Weltkrieges Artilleriemunition zusammengebaut und Giftstoffe in Geschosse abgefüllt wurden. Die Geschosse enthielten eine flüssige Chemikalie aus der Gruppe der Loste. Der chemische Kampfstoff, der oft auch als Senfgas bezeichnet wird, ist stark hautschädigend.

Traunreut: Eine von fünf Vertriebenen-Gemeinden in Bayern

Traunreut gehört zu den fünf Vertriebenen- oder Flüchtlingsgemeinden in Bayern, die ab 1950 überwiegend von Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten gegründet wurden. In Oberbayern zählen dazu Waldkraiburg und Geretsried, in der Oberpfalz Neutraubling. Im Allgäu entwickelte sich in ähnlicher Art und Weise Neugablonz, der größte Stadtteil von Kaufbeuren. Alle fünf Siedlungen wurden der Bayerischen Staatsbibliothek zufolge auf ehemaligem Wehrmachtsgelände gegründet.

Schwierige Entgiftungsmaßnahmen auf dem MUNA-Gelände

Auf dem Gelände der MUNA in Traunreut waren in der Nachkriegszeit schwierige Entgiftungsmaßnahmen nötig. Munition und Giftstoffe mussten weggeschafft oder entgiftet werden. Die Arbeit war gefährlich, aber für viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf dem MUNA-Gelände lebten, finanziell attraktiv. 1947 starben elf Menschen bei einer Explosion eingelagerter Bomben, viele wurden verletzt. Außerdem litten viele Arbeiter unter langfristigen Gesundheitsschäden.

Ab 1949 siedelten sich auf dem MUNA-Gelände Betriebe an, darunter auch das Hausgerätewerk von Siemens und der Industrieelektronik-Hersteller Heidenhain, die heute noch wichtige Arbeitgeber sind.

Zur Bildergalerie: Historische Bilder aus Traunreut

Bauboom und Wilder Westen in den 1950er-Jahren

Ab den 1950er-Jahren folgte ein Bauboom, erinnert sich der 88-jährige Fritz Bantscheff. "Es war wie der Wilde Westen hier, es war eine richtige Aufbruchstimmung und jeder, der hierherkam, hat mit angepackt und versucht, mit anzutreiben." Bei jedem Hausbau hätten Freunde und Verwandte angepackt. "Alles, was ging, hat man selbst gemacht", sagt Bantscheff. Zudem habe man ausgiebig gefeiert, etwa in den ersten Festzelten, in denen anfangs keine Polizeikontrollen stattfanden.

Traunreut hat jede Migrationswelle mitgeprägt

1950 wurde Traunreut zur Gemeinde und zehn Jahre später zur Stadt erhoben. Die Bevölkerung wuchs schnell: von rund 1.400 Einwohnern zu Beginn auf knapp 10.000 im Jahr 1965. Heute zählt die Stadt mehr als 20.000 Einwohner und ist damit die zweitgrößte Stadt im Landkreis Traunstein und ein wichtiger Wirtschaftsstandort in der Region.

Nach Traunreut kamen in den folgenden Jahren immer wieder Menschen mit verschiedensten Migrationsbiografien. Während der Gastarbeiter-Migrationswelle kamen vor allem Zuwanderer aus Griechenland und Kroatien nach Traunreut. Ab 1970 kamen abermals viele Rumäniendeutsche in die junge Industriestadt.

1970er- bis 90er-Jahre: Zuwanderung von Rumäniendeutschen und Russlanddeutschen

Die deutsche Bundesregierung kaufte in den 1970er- und 80er-Jahren mehr als 200.000 Rumäniendeutsche frei, um sie nach Westdeutschland zu holen. In den 1980er- und 90er-Jahren folgte eine Zuwanderungswelle von Russlanddeutschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und auch nach Traunreut. Der Bundeszentrale für Politische Bildung zufolge sind Russlanddeutsche eine der größten Zuwanderergruppen in der deutschen Gesellschaft, bis heute.

Die Stadt Traunreut präsentiert sich heute als junge, moderne und vielseitige Europastadt. Im Juli feiern die Traunreuter ihr 75. Gemeindejubiläum mit einem Stadtfest.

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