Er spielt hier die entscheidende Rolle: Ralph Tiesler, der Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), entwickelt und koordiniert die Schutzmaßnahmen in Deutschland. Angesichts einer laut Sicherheitsbehörden immer intensiveren hybriden Kriegsführung Russlands rückt auf Expertenebene folgende Frage immer mehr ins Zentrum: Wie können wir uns effektiv auf den Ernstfall vorbereiten? Im Interview mit BR-Chefredakteur Christian Nitsche bei "7 Fragen Zukunft" berichtet Tiesler über konkrete Strategien, um die Bevölkerung besser zu schützen und Resilienz zu stärken.
"Wir hatten noch nie genug Bunker"
Christian Nitsche: Wenn wir über einen möglichen Krieg zwischen Russland und der NATO sprechen, macht das vielen Angst. Wir sehen: Die Nachfrage nach Bunkern - auch im privaten Bereich - wächst. Haben wir zu wenig Bunker?
Ralph Tiesler: Deutschland hat nie genügend Bunker gehabt – ganz einfach, weil es auch schon im Kalten Krieg und davor nicht ausreichend Schutzraum-Plätze in verbunkerten Einrichtungen gegeben hat. Sie kennen alle diese Hochbunker, die sind in Großstädten ja noch sichtbar. Die waren ausgelegt für am Ende zweieinhalb Millionen Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland. Das heißt, wir haben nie über ausreichende Schutzraum-Plätze verfügt, selbst im Zweiten Weltkrieg, das ist eine Illusion, die da entstanden ist.
Und wir haben nach Ende des Kalten Krieges alle gemeinsam beschlossen: Wir brauchen das nicht mehr. Und deswegen sind 2007 alle diese Bunker aus ihrer Zivilschutzbindung entwidmet worden und standen zum Verkauf. Und als es dann 2022 mit dem Angriffskrieg Russlands losging, haben wir sofort "Stopp" gesagt.
"Wenn wir angegriffen werden, geht es um Minuten"
Nitsche: Wie nützlich sind diese Bunker denn noch?
Tiesler: Ich bin sehr skeptisch, ob diese Bunker überhaupt nützlich sind. Einfach deswegen, weil das Szenario, von dem wir jetzt ausgehen müssen, was wir in der Ukraine jetzt auch live erleben können, spricht eher dafür, dass wir von sehr gezielten Anschlägen ausgehen müssen, in erster Linie auf kritische Infrastrukturen, auf mögliche Militärkonvois, die durch Deutschland, durch das Herz Europas gehen. Das heißt sehr gezielte Angriffe, wo für Bürgerinnen und Bürger Gefahr besteht. Und dazu brauchen wir keine Bunker im klassischen Sinne, sondern wir reden eigentlich eher davon, dass wir Zufluchtsorte brauchen, und zwar schnell.
Denn wenn wir heute damit rechnen müssen, dass wir angegriffen werden, dann haben wir nicht viel Zeit. Es geht um Minuten. Das heißt, egal wo Sie sind, Sie müssen einen Ort finden, wo Sie zumindest temporär Schutz haben. Da sind diese paar Bunker, die wir haben, keine Hilfe. Bis Sie jetzt von hier aus in einem Bunker sind, der irgendwo noch existiert, da vergehen möglicherweise Stunden, sie haben aber nur Minuten. Das heißt, sie müssen dort, wo sie dann sind, schnell etwas finden können.
Nitsche: Zum Beispiel im Keller?
Tiesler: Die Idee ist, dass die Menschen in den Keller gehen, dort möglichst fensterlose Räume aufsuchen. Das können aber auch Treppenhäuser sein. Wir haben den Vorteil, dass wir in Deutschland eine ziemlich gute Baustruktur haben, diese ist sehr massiv und die schützt schon sehr gut gegen solche Wirkungen, von denen wir ausgehen. Das gilt aber natürlich auch für andere öffentliche Gebäude. Das sind alles Gebäude, die dafür sehr gut geeignet sind. Und das, was wir jetzt aktuell tun, in den Überlegungen zum neuen Konzept dazu, ist, all diese Gebäude zu identifizieren und die dann so auszustatten, dass sie den nötigen Schutz finden. Wir sagen, die Menschen müssen schnell irgendwo hinkommen können, natürlich auch in eine Tiefgarage oder in einen U-Bahn-Schacht.
Nitsche: Und dort finden die Menschen alles Nötige vor?
Tiesler: Dort müssen sie eine Versorgung für einen Übergangszeitraum finden. Ich gehe eher davon aus, dass es immer nur ein paar Stunden sind. Das erleben wir auch aktuell in der Ukraine, die ähnliche Schutzkonzepte verfolgt. Das heißt, die Menschen müssen sich drei, vier Stunden irgendwo aufhalten können. Das kann aber mitten in der Nacht sein. Sie haben kleine Kinder dabei, sie haben Menschen dabei, die gehbehindert sind, die müssen irgendwo sitzen und liegen können. Das heißt, die Konzepte müssen für den Aufenthalt dieser Menschen auch geeignet sein. Deswegen wird immer eine gewisse Anzahl von solchen Feldbetten verfügbar sein. Die sind nicht alle aufgebaut in den U-Bahn-Schächten, sondern die stehen dort natürlich immer zusammengefaltet in irgendeiner Ecke und können dann zur Verfügung gestellt werden, wenn die Lage sich zuspitzt.
"Im nächsten Jahr werden die Abläufe getestet"
Nitsche: Das haben wir heute schon?
Tiesler: Heute noch nicht, im nächsten Jahr wird es eine Reihe von Pilotverfahren geben. Da werden wir viel Geld bekommen, um in einigen Städten das erste Mal auszuprobieren, wie tatsächlich der Bedarf aussieht, um beispielsweise auch Menschen mit Betreuung in diesen U-Bahn-Schächten auch im Zweifel behandeln zu können. Das machen wir alles im nächsten Jahr im Rahmen von Pilotverfahren und gleichzeitig werden die technischen Dinge zum Identifizieren von solchen Räumen und zum Hinweisen für Menschen auf ihren Smartphones ausgerollt bzw. ausgetestet und entwickelt, um dann im Jahr 27/28 in die ganze Fläche gehen zu können.
Nitsche: Gibt es eine Sicherheitsapp, die mich alarmiert?
Tiesler: Also die App, die Sie alarmiert, gibt es schon: Nina. Es gibt auch andere Apps, die an unser zentrales modulares Warnsystem angeschlossen sind. Dazu gehört beispielsweise Katwarn. Die haben alle die gleiche Funktion, zu warnen. Das heißt: Wir geben ihnen die Gefährdungslage. Wir sind als Behörde auch dafür zuständig. Wir verfügen über die Sensorik, vor Raketen warnen zu können. Wenn wir warnen, dann haben Sie nur noch sechs Minuten Zeit. Und Sie werden dann genau über diese Informationen auf Ihrem Smartphone verfügen, wohin Sie gehen können.
"Wir haben keine Zeit"
Nitsche: Ist dieses Konzept erprobt?
Tiesler: Das machen nicht nur wir so, das ist in Europa gang und gäbe. Es gibt die Paradebeispiele, wo Schutzraum-Plätze für alle vorhanden sind: Die Schweiz wird da immer gerne genannt, oder Finnland. Teilweise trifft das auf Schweden und Norwegen zu. Überwiegend geht es den meisten anderen Mitgliedsstaaten genauso wie uns: Die haben keine Schutzräume im klassischen Sinne, also Bunker, und die machen alle ähnliche Konzepte, wie wir sie gerade machen. Das heißt, die überlegen sich, wie können wir eine Infrastruktur besser nutzen? Das ist eine große Herausforderung aktuell, denn das Identifizieren braucht Zeit. Aber Zeit ist das richtige Stichwort: Wir haben nämlich keine Zeit.
Nitsche: Ist dieses Zeitfenster 2029 oder vielleicht viel kürzer? Wenn der Ukrainekrieg beendet ist, dann hat Putin die Möglichkeit, so schnell Waffen aufzubauen, dass man schon in zwei bis vier Jahren, aber eben auch in zwei Jahren schon mit so einem groß angelegten Krieg rechnen könnte – theoretisch.
Tiesler: Das kann ich natürlich nicht beurteilen, ob er das kann. Aber die Zahl kenne ich auch. Ich selbst sage, wir müssen uns beeilen. Wer weiß, ob 2029 nicht schon 2027 ist. Aber ich kann das natürlich von meiner Seite aus nicht beurteilen, das müssen andere sagen. Aktuell ist die Zahl, nach der wir uns ausrichten, 2029 und die ist schon wahnsinnig kurz.
"Wir dürfen die Augen nicht verschließen"
Nitsche: Wenn man sich die Gesamtsituation betrachtet, braucht es dann einen Bewusstseinswandel? Ich habe selbst den Kalten Krieg erlebt. Aber Jüngere sind vielleicht neu in so eine Situation hineingeworfen. Wir reden über Bunker, Angriffe mit Raketen. Ist das Teil unseres neuen Lebens?
Tiesler: Ja, das ist tatsächlich Teil unseres neuen Lebens. Ich glaube, dass auch tatsächlich dieser Bewusstseinswandel notwendig ist. Wir dürfen die Augen einfach nicht verschließen vor dem, was sich da gerade tut. Wir sollen alles dafür tun, das natürlich zu verhindern, wenn es irgendwie geht. Da bin ich der Erste, der dabei ist. Deswegen ist das, was wir tun, ja auch Teil einer Abschreckung. Denn das soll dazu beitragen, dass es erst gar nicht eintritt. Ich möchte nicht, dass das passiert. Wir müssen leben lernen mit diesem Phänomen, das wir bis ins Ende der 80er Jahre in Deutschland schon einmal hatten. Aber eben mit dem klaren Bewusstsein, dass wir nicht davor Angst haben müssen, sondern dass wir uns auf der einen Seite gut vorbereiten können auf eine solche Situation und andererseits damit auch einen Beitrag dazu leisten, es vielleicht unmöglich zu machen.
Das hört sich sehr widersprüchlich an, fast wie ein Dilemma. Aber, ich glaube, das ist die einzige Antwort, die wir im Augenblick finden können, um in Deutschland einen sicheren Weg zu finden, mit dieser Situation auch gut umgehen zu können. Alles zielt darauf ab, diesen Zustand niemals erreichen zu müssen. Aber wichtig ist, dass die Menschen erstens erfahren, was ihnen droht, dass man den Menschen die Wahrheit sagt, so wie sie sich gerade entwickelt. Und gleichzeitig muss man ihnen sagen, dass sie selbst etwas tun können.
Nitsche: Danke für das Gespräch.
Dieser Artikel ist erstmals am 26. Oktober 2025 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!
