Delegierte sitzen vor dem Logo der Partei. Vom 17.11 bis 19.11. findet in Augsburg der Bundesparteitag der Partei statt.
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Die Linke wollte beim Parteitag in Augsburg den Neuanfang wagen. In gewisser Weise ist das gelungen. Doch der Streit mit Wagenknecht hallt nach.

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Linke nach Wagenknecht: zwischen Aufbruch und Katerstimmung

Linke nach Wagenknecht: zwischen Aufbruch und Katerstimmung

Die Linke wollte beim Parteitag in Augsburg den Neuanfang schaffen. In gewisser Weise ist das gelungen. Doch der Streit mit Wagenknecht hallt nach. Und die Strategie der Parteispitze wirft Fragen auf. Eine Analyse.

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Elektrobeats dröhnen durch die Messehalle. Viele Parteitagsdelegierte haben sich erhoben, um Janine Wissler zu applaudieren. Die Co-Chefin der Linken strahlt übers ganze Gesicht, winkt in die Menge. "An diesem Wochenende schlagen wir ein neues Kapitel auf", hat Wissler ihren Leuten versprochen – und damit das Mantra der Parteiführung bekräftigt. Die Linke will nach vorne schauen, nachdem der Streit mit Sahra Wagenknecht und deren Unterstützern die Partei lange gelähmt hat.

Tatsächlich produziert das Treffen in Augsburg ungewohnte Bilder von linker Harmonie. Anträge des Parteivorstands bekommen breite Mehrheiten. Beispielsweise zur Schuldenbremse, in der die Linke vor allem ein Hemmnis für Investitionen in Schienen, Brücken und soziale Sicherheit sieht. Immer wieder brandet Beifall für Redner auf, Zwischenrufe sind selten. Und nach Abstimmungen liegen sich erstaunlich oft Menschen in den Armen.

Linke diskutiert über Lage in Nahost

Diskutiert wird trotzdem – auch kontrovers. Das gehört zur DNA der Linken. So werden am späten Freitagabend in einer Debatte über die Lage im Nahen Osten unterschiedliche Ansichten darüber sichtbar, wie der Krieg und seine Ursachen zu bewerten sind. Später merkt Wissler an, einige Aussagen seien dem "Leid der Menschen im Nahen Osten" nicht gerecht geworden.

In der Sache aber sind sich die Delegierten am Ende einig. Beschlossen wird ein Kompromisspapier. Die Linke fordert darin einen sofortigen Waffenstillstand und kritisiert die Bombardierungen im Gazastreifen. Zugleich verlangt die Partei die Freilassung der Geiseln in den Händen der Hamas-Terroristen, und sie betont das Existenzrecht Israels. Ein Zeichen dafür, dass die Linke nicht nur atmosphärisch zusammenrückt, sondern auch inhaltlich.

Klare Mehrheitsverhältnisse bei Parteitag der Linken

Größere Auseinandersetzungen bleiben in Augsburg aus. Für die Parteispitze erfüllt sich damit eine Hoffnung: dass mit der Abspaltung des Wagenknecht-Flügels die Mehrheitsverhältnisse geklärt sind. Das zeigen die Abstimmungsergebnisse dieses Wochenendes, mit denen das Spitzenduo Wissler und Martin Schirdewan zufrieden sein kann. Und das zeigt ein Blick in die Halle, in der die Delegierten tagen. In den hinteren Reihen bleiben etliche Stühle leer. Von den verbliebenen Wagenknecht-Anhängern in der Partei haben sich offenbar nur wenige auf den Weg nach Augsburg gemacht.

Die neue Geschlossenheit kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schock über die Spaltung der Partei und das Aus für die Bundestagsfraktion tief sitzt. Deren Noch-Chef Dietmar Bartsch nennt die anstehende Auflösung eine "gewaltige Niederlage". Die Verantwortung dafür trügen in erster Linie "die zehn Abgeordneten, die die Partei verlassen haben", so Bartsch. "Oder besser gesagt, die neun Abgeordneten, die in der zehnten ausschließlich eine politische Heilsbringerin sehen." Auch wenn er ihren Namen nicht nennt, ist klar, wen Bartsch meint.

Linke will Selbstbeschäftigung beenden

Ein verbales Manöver, das das Dilemma für die Linke verdeutlicht. Einerseits will die Partei die quälende Selbstbeschäftigung beenden. Andererseits hinterlässt die Auseinandersetzung mit Wagenknecht einen historischen Scherbenhaufen, den es jetzt aufzukehren gilt. Dass eine Fraktion sich in der laufenden Wahlperiode auflöst, hat der Bundestag seit rund 60 Jahren nicht mehr erlebt.

Eine offene Auseinandersetzung darüber, wer das Desaster zu verantworten hat, erspart die Parteibasis dem Vorstand an diesem Wochenende. Doch hinter vorgehaltener Hand wird auch Kritik laut. Das Argument: Für ein derartiges Zerwürfnis sei nie nur eine Seite verantwortlich, Partei- und Fraktionsspitze hätten ein solches Ende unter allen Umständen verhindern müssen.

Münchner Abgeordnete: Kapitel Wagenknecht abgeschlossen

Die Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke widerspricht. Man habe alles versucht, aber ein Zusammenkommen sei einfach nicht mehr möglich gewesen, macht die Politikerin aus München im BR24-Interview deutlich. Das Kapitel Wagenknecht sei für ihre Partei abgeschlossen. Entscheidend ist für Gohlke, dass die Linke in Augsburg zu neuer Einigkeit gefunden hat: "Die Wählerinnen und Wähler müssen auch in Bayern wissen, wofür wir stehen."

Tatsächlich ist der Richtungsstreit geklärt – jedenfalls nach jetzigem Stand: Die Linke will "Brot-und-Butter"-Themen wie faire Löhne oder auskömmliche Renten mit der Forderung nach einer humanen Flüchtlingspolitik und dem Schutz von Minderheiten verbinden. Das Ziel: enttäuschte Wähler von SPD und Grünen zurückholen. In linksliberalen, großstädtischen Milieus könnte das funktionieren. Schließlich tragen Grüne und linke Sozialdemokraten im Bund zähneknirschend eine schärfere Asylpolitik mit. Und mit Carola Rackete hat die Linke eine prominente Flüchtlings- und Klimaaktivistin ins Spitzenteam für die Europawahl im nächsten Jahr geholt.

Sozialmediziner Trabert kandidiert für Linke bei Europawahl

Doch unter den Delegierten befürchten manche, dass eine klare Betonung migrationsfreundlicher Positionen bei den anstehenden Landtagswahlen im Osten hinderlich sein könnte. Denn die Linke hat dort viele Wähler an die AfD verloren. Deshalb, so ist gelegentlich in Augsburg zu hören, habe Gerhard Trabert mehr Aufmerksamkeit verdient, auch er ein Kandidat fürs Europaparlament. Der Arzt kümmert sich zum Beispiel um Menschen, die kein Dach überm Kopf oder keine Krankenversicherung haben. Wie Rackete ist er parteilos. Aber Trabert bietet weniger Angriffsfläche, gerade in der aufgeheizten Einwanderungsdebatte.

Die Linke hat an diesem Wochenende die Weichen für einen Neuanfang gestellt – inhaltlich und personell. Und damit die Grundvoraussetzung dafür geschaffen, sich gegen die drohende Bedeutungslosigkeit zu stemmen. Doch die Neuausrichtung birgt Risiken. Zudem sind die langfristigen Folgen der Spaltung noch nicht absehbar. Der Augsburger Parteitag: Für die Linke markiert er einen Aufbruch ins Ungewisse.

Im Video: Die Linke - Strategie für den Neuanfang

Bundesparteitag der Linken in Augsburg
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Die Linke: Strategie für den Neuanfang

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