Illustration: Polizeistation mit Pressemeldungen
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Polizeimeldungen: Große Unterschiede bei Nationalitäten-Nennung

Polizeimeldungen: Große Unterschiede bei Nationalitäten-Nennung

Eine BR- und NDR-Datenanalyse von hunderttausenden Pressemeldungen der Polizei zeigt: Regional gibt es große Unterschiede, wie die Polizei mit der Nennung der Nationalität Tatverdächtiger umgeht. Die Debatte um einheitliche Regeln geht weiter.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

"22-jähriger algerischer Asylbewerber bedroht Polizeibeamten." "Mehrere körperliche Auseinandersetzungen zwischen syrischen Zuwanderern." "Nach dem Diebstahl einer Elektrozahnbürste konnten die Männer albanischer und serbischer Herkunft gefasst werden." "Der 28-jährige Tunesier besaß die Unverschämtheit und urinierte grinsend in den Raum." Das sind Auszüge aus Pressemeldungen der Polizei.

Seit der Kölner Silvesternacht wird in Deutschland immer wieder darüber diskutiert, in welchen Fällen die Polizei die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen veröffentlichen soll. BR und NDR haben mit einem computergestützten Verfahren Pressemeldungen der Polizei ausgewertet, die auf dem Presseportal der dpa-Tochter news aktuell in den vergangen sieben Jahren (2014 - 2020) veröffentlicht wurden, insgesamt mehr als 700.000 Meldungen. Über 200 Polizeidienststellen stellten in den vergangenen Jahren dort Meldungen ein, auf die u.a. Journalisten zugreifen können.

Verzerrtes Verhältnis bei Nationalitäten-Nennungen

Die Auswertung der Daten zeigt: In den allermeisten Fällen geht es um Diebstahl-Delikte, selten um Sexualdelikte oder Mord und Totschlag. In etwa fünf Prozent der Meldungen wird die Nationalität von Personen, meist handelt es sich um Tatverdächtige, genannt. Menschen aus Herkunftsländern Geflüchteter, darunter Syrien, Algerien und Afghanistan, tauchen in doppelt so vielen Polizeimeldungen auf wie Deutsche. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist das Verhältnis umgekehrt: Dort werden Deutsche deutlich öfter als Tatverdächtige ausgewiesen - etwa fünfmal so oft wie Menschen aus den genannten Ländern. Für die Auswertung wurden die 20 Nicht-EU-Nationalitäten berücksichtigt, die am häufigsten in den Polizeimeldungen genannt wurden. Diese Länder sind gleichzeitig die, aus denen die meisten Asylsuchenden kommen.

Tobias Singelnstein, Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr Universität Bochum, sieht angesichts der Ergebnisse der Datenauswertung "die Gefahr, dass in der öffentlichen Wahrnehmung ein sehr verzerrtes Bild über die Kriminalitätswirklichkeit entsteht".

Silvester 2015/2016 als Schlüsselmoment

Ein Zeitpunkt fällt besonders auf: Im Januar 2016 nennt die Polizei deutlich häufiger die Nationalität ausländischer Tatverdächtiger. Hintergrund ist, dass nach der Kölner Silvesternacht, in der es zu Übergriffen und sexueller Belästigung gekommen war, die Polizei die Nationalität von Tatverdächtigen zunächst nicht genannt hatte. Daraufhin wurde ihr vorgeworfen, etwas zu verheimlichen und eine deutschlandweite Debatte über die Nennung der Nationalität von Tatverdächtigen entbrannte.

In der Folge fragten auch Medien immer öfter die Herkunft von Tatverdächtigen bei der Polizei an. Die Silvesternacht wirkte lange nach: Noch Jahre später werden die Nationalitäten von Personen aus Fluchtländern in den Pressemeldungen häufiger erwähnt als zuvor:

Anteil der Meldungen in Prozent, in denen Personen mit den untersuchten Nationalitäten genannt werden (nach Quartalen)

Regionale Unterschiede statt einheitliches Vorgehen

Deutschland, auch das zeigt die Datenanalyse, ist ein Flickenteppich, was Nationalitäten-Nennungen von ausländischen Tatverdächtigen durch die Polizei angeht. Manche Polizeibehörden nennen sie kaum, andere in fast jeder vierten Meldung. Die Polizeipräsidien in Karlsruhe und Gießen beispielsweise gaben die Staatsangehörigkeiten bei Personen aus den untersuchten 20 Ländern nicht nur um das Doppelte, sondern um ein Vielfaches öfter an als bei Deutschen. Als Erklärung hieß es von den Pressestellen beider Präsidien, Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge in ihrem Zuständigkeitsgebiet brächten ein erhöhtes Kriminalitätsgeschehen mit sich - und damit mehr öffentliches Interesse an der Herkunft Tatverdächtiger. Das Polizeipräsidium Gießen antwortete auf Anfrage von BR und NDR:

"Wir haben, auch aufgrund des öffentlichen Interesses für den hiesigen Raum, die Nationalität von Asylbewerbern nach Prüfung des jeweiligen Einzelfalls genannt." Polizeipräsidium Gießen

Nennung von Nationalität: Gegenstand von öffentlichem Interesse oder nicht?

Wann besteht öffentliches Interesse, wann nicht? Oftmals eine schwierige Frage für die Polizei, sagt Jürgen Köhnlein, Vorsitzender Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) Bayern: "Auf der einen Seite kann und will es sich die Polizei mit den Presseschaffenenden, aber auch mit dem interessierten Bürger nicht verscherzen, wenn nicht ausreichende Informationen herausgegeben werden. Gleichzeitig können durch diese Bekanntgabe - aber auch durch eine Nicht-Bekanntgabe von Informationen - diese berühmten Ressentiments geschürt werden."

Auch die Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Mittelfranken, Elke Schönwald, sieht diese Gefahr: "Die Nennung einer Nationalität spiegelt ja nur den einen Tatverdächtigen wider. Und es kann natürlich dazu führen, je nachdem, wie die gesellschaftliche Debatte gerade geführt wird, dass es zur Diskriminierung oder Stigmatisierung einzelner Gruppen führt." Bei Fahndungsaufrufen und bei spektakulären Fällen werde aber auch in Mittelfranken die Herkunft genannt, ebenso bei Nachfragen von Journalisten. Im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Mittelfranken gibt es wie in Karlsruhe und Gießen eine große Aufnahmeeinrichtung, dennoch werden entsprechende Nationalitäten in weniger als einem Prozent der untersuchten Meldungen genannt, wie die Analyse zeigt.

Kriminologe Tobias Singelnstein gibt zu bedenken, dass die Nationalität eines Tatverdächtigen in der Regel keinen Zusammenhang mit einer Tat aufweise, viel wichtiger seien individuelle Lebensumstände. Er spricht deshalb von einer "Pseudo-Transparenz", die durch die Nennung von Nationalitäten durch die Polizei geschaffen werde: "In Wirklichkeit verschleiert es mehr, weil es den Eindruck erweckt, das wäre von Bedeutung für die Entstehung von Kriminalität."

Auch die Presse in der Verantwortung

Die Journalistinnen und Journalisten von BR und NDR haben den Weg einer ganzen Reihe von Polizeimeldungen nachvollzogen. Ein typisches Beispiel: Eine Polizeibehörde veröffentlicht 2019 eine Pressemitteilung über einen Mann, der im Zug ohne Fahrkarte unterwegs ist und die Zugbegleiterin beleidigt, später wird er aufgegriffen, weil er einen Zug mit Steinen bewirft.

In der Meldung wird er als "mauretanischer Fahrgast" bezeichnet. Eine Lokalzeitung greift den Bericht auf und postet ihren Artikel am folgenden Tag auf ihrer Facebook-Seite. Unter dem Post werden in den kommenden Stunden dutzende ausländerfeindliche Kommentare hinterlassen.

💡 Pressekodex: Das gilt für Medien

Der Pressekodex legt Richtlinien für die journalistische Arbeit fest. Zur Nennung der Herkunft von Straftätern heißt es: "Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse." Für die Nennung könne zum Beispiel sprechen, wenn eine besonders schwere oder außergewöhnliche Straftat vorliege. Oder wenn eine Straftat aus einer größeren Gruppe heraus begangen werde, die durch gemeinsame Merkmale wie ethnische, religiöse, soziale oder nationale Herkunft verbunden sei (wie z.B. bei der Kölner Silvesternacht 2015/2016). Der Pressekodex wurde 2017 geändert, vorher hieß es, die Herkunft von Straftätern sei nur dann zu nennen, wenn ein "begründbarer Sachbezug" zur Straftat vorliege.

Doch nicht immer sind Medien, für die der Pressekodex gilt, an der Verbreitung dieser Meldungen beteiligt. Es gibt zahlreiche weitere Fälle, in denen Polizeimeldungen mit nichtdeutschen Tatverdächtigen direkt in den sozialen Medien geteilt werden und Hasskommentare hervorrufen. Ausländerfeindliche Blogs werden mit Informationen aus Polizeimeldungen bestückt, Orte von Straftaten nichtdeutscher Tatverdächtiger auf Karten dargestellt.

Debatte um einheitliche Regeln

Seit Jahren diskutiert die Politik, ob es bei der Polizei eine bundesweit einheitliche Linie bei der Nationalitäten-Nennung geben soll. Eine Abfrage von BR und NDR zeigt: Die Landesinnenministerien sind sich weiter uneinig. Baden-Württemberg und Bremen teilten mit, dass das begründete öffentliche Interesse an der Tat ausschlaggebend sei, ob die Herkunft eines Tatverdächtigen genannt werde. Rheinland-Pfalz und einige andere Länder orientieren sich nach eigenen Angaben hierbei vor allem am Pressekodex. Bayern nannte den Sachbezug einer Nationalität zur Tat als wichtiges Entscheidungskriterium.

Das bayerische Innenministerium teilte außerdem mit, die Frage einer bundeseinheitlichen Regelung sei im Rahmen der Innenministerkonferenz im Herbst 2019 umfassend diskutiert worden, aber ohne Konsens geblieben. Eine solche Regelung wäre grundsätzlich wünschenswert. Das sieht auch Jürgen Köhnlein, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft DPolG Bayern, so. "Wir bräuchten hier wirklich praktische Handlungshilfen", erklärt er im BR-Interview. Die Nationalität immer zu nennen, auch wenn es sich um Deutsche handelt, sieht er kritisch. Das berge Schwierigkeiten.

Genau dazu sind einige Bundesländer inzwischen übergegangen. Aus Sachsen hieß es, man gebe Nationalitäten "im Sinne einer transparenten Kommunikationsarbeit" grundsätzlich an. Auch Mecklenburg-Vorpommern gibt der Polizei seit 2020 vor, die Staatsangehörigkeit stets mit anzugeben. In Nordrhein-Westfalen ist ein entsprechender Erlass geplant. Die Entwicklung in diesen Ländern führt dazu, dass im untersuchten Datensatz der Anteil der Meldungen, in denen Deutsche explizit genannt werden, im Lauf der Zeit ansteigt. Das Verhältnis zu den 20 untersuchten Nicht-EU-Ländern bleibt jedoch verzerrt, weil Deutsche laut Polizeilicher Kriminalstatistik fünfmal häufiger als Tatverdächtige geführt werden.

Nationalitäten-Nennung: Meldungen mit Menschen aus Fluchtländern und Deutschen im Zeitverlauf

Polizeiinspektion Lüneburg will Praxis ändern

Auffällig in der Datenanalyse ist unter anderem auch die Polizeiinspektion Lüneburg. Lüneburg ist nicht als Kriminalitäts-Hotspot bekannt. Dennoch wurden hier Personen aus den Herkunftsländern von Flüchtlingen in über 15 Prozent der Meldungen genannt, Deutsche in nicht einmal zwei Prozent der Meldungen. Dabei gilt in Niedersachsen eine Verordnung, nach der Nationalitäten nur im Ausnahmefall genannt werden sollen.

Im Interview zeigt sich Polizeihauptkommissar Kai Richter aus der Pressestelle überrascht von den Ergebnissen der Datenanalyse. Seine Dienststelle bemühe sich, offen und vorurteilsfrei zu berichten, sagt er. Dazu habe in der Vergangenheit auch gehört, Nationalitäten als "objektives Merkmal" zu nennen. Die Presseanfrage von BR und NDR habe man jedoch zum Anlass genommen, mit dem Innenministerium über bestimmte Passagen der entsprechenden Rechtsvorschrift zu sprechen. "Das Innenministerium hat dargestellt, dass grundsätzlich keine Nationalitäten zu nennen sind", sagt Richter. Seine Dienststelle habe deshalb die Praxis, wann Staatsangehörigkeiten genannt werden, geändert.

Polizei-Blaulicht (Symbolbild)
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Wann nennt die Polizei die Herkunft eines Tatverdächtigen?

Über die Daten:

Die Datengrundlage bilden ca. 1,5 Millionen Polizeimeldungen der Jahre 2014 bis 2020, die über das Presseportal der dpa-Tochter news aktuell veröffentlicht wurden. Nicht alle Polizeidienststellen veröffentlichen ihre Pressemeldungen dort, im Datensatz enthalten sind ca. 200 Dienststellen aus zehn Bundesländern. In ca. 700.000 der Meldungen wurde ein Delikt erkannt. In etwa 5 Prozent dieser Meldungen wurde die Nennung von Personen unter Angabe einer Nationalität festgestellt. Meldungen mit Bränden oder Autounfällen wurden nicht berücksichtigt. In der weiteren Detail-Auswertung wurden die 20 Nicht-EU-Staaten berücksichtigt, die am häufigsten im Datensatz vertreten sind (Syrien, Türkei, Algerien, Afghanistan, Marokko, Georgien, Albanien, Serbien, Gambia, Irak, Russland, Somalia, Iran, Kosovo, Tunesien, Eritrea, Pakistan, Ukraine, Guinea, Nigeria). Meldungen der Bundespolizei wurden nicht einbezogen, da hier aufgrund der Zuständigkeit deutlich häufiger Nationalitäten genannt werden und dies das Ergebnis verzerrt hätte. Auch Herkunftsbegriffe, die keine konkrete Nationalität bezeichnen (z.B. Südländer, Afrikaner) wurden außenvorgelassen. Als Vergleich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik dienten die Tatverdächtigenzahlen des BKA der entsprechenden 20 Nationalitäten der Jahre 2014-2019. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet von Prof. Dr. Thomas Hestermann von der Hochschule Macromedia.

Mitarbeit: Jan Strozyk (NDR), Irini Bafas, Niels Ringler, Sabine Wieluch (BR)