Es ist der 28. Juli: Ein Boot treibt in internationalen Gewässern im Mittelmeer. An Bord sind etwa 100 Menschen. Sie sind in Tunesien in See gestochen. Ihr Ziel: Italien. Doch der Motor des Boots ist ausgefallen.
So etwas ist auf dem Mittelmeer seit Jahren beinahe an der Tagesordnung. Der Fall könnte also einer von vielen sein und kaum bemerkt werden – doch dieses Boot findet die Crew eines Flugzeugs der deutschen, nicht-staatlichen Seenotrettungsorganisation "Sea-Watch". Damit beginnt eine Geschichte, die laut Hilfsorganisationen beispielhaft ist für das Leid auf dem Mittelmeer.
- Zum BR-Podcast: Seenotrettung – Einsatz in höchster Gefahr
Vorwurf: Küstenwache hilft nicht
Einen Tag später, am 29. Juli, startet die Maschine erneut zu einem Patrouillenflug. An Bord des Flugzeugs ist dieses Mal auch Lars Castellucci (SPD). Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung will sich ein Bild von der aktuellen Lage auf dem Mittelmeer machen. Wieder steuert die Crew das Boot an. Es treibt immer noch auf hoher See. Beim ersten Überflug hatte Sea-Watch laut eigenen Angaben unter anderem die italienische Küstenwache alarmiert. Doch die unternahm der Organisation zufolge nichts. Das italienische Innenministerium äußert sich auf Anfrage nicht dazu.
Beim zweiten Überflug nimmt die Crew dann Kontakt zu einem Frachter auf, der dem Boot am nächsten ist. Lars Castellucci erinnert sich, wie dessen Kapitän durchgibt, er könne seine Besatzung nicht in Gefahr bringen. Sein Schiff sei nicht dafür vorgesehen, so viele Menschen an Bord zu nehmen. Dann aber dreht der Frachter doch bei. Seeleute lassen eine Leiter hinab. Als die ersten Menschen an Bord gehen, kippt das Flüchtlingsboot um.
Frontex schaltet sich ein
Fast 100 Menschen treiben im Wasser. Das Sea-Watch Flugzeug sucht Überlebende. Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex schickt zwei Maschinen. Frontex erklärt, eine Crew habe sehr schnell eine Rettungsinsel abgeworfen. Ein Flugzeug habe die Rettung koordiniert, das andere nach Überlebenden gesucht. Damit habe Frontex eine zentrale Rolle dabei übernommen 100 Menschen zu retten.
Sea-Watch sieht das anders: Die EU töte systematisch Menschen. Etwa, weil Schiffe der Küstenwachen nicht auslaufen würden. Auch Christopher Hein, Professor für Migrations- und Asylrecht an der Universität LUISS in Rom, spricht von "unterlassener Hilfeleistung".
Mission Mare Nostrum ausgelaufen
Rettungsaktionen wie diese Ende Juli wurden früher mal von staatlichen Stellen durchgeführt. Im Rahmen der Mission Mare Nostrum kreuzten etwa Marine-Schiffe im Mittelmeer. In einem Jahr retteten sie weit über 100.000 Menschen. Dann lief die Mission aus – der politische Wind hatte sich gedreht, in Italien und in der EU. Deshalb begannen die Nichtregierungsorganisationen mit ihren Rettungseinsätzen.
Behindert Italien die Seenotrettung?
Heute beklagen sie, dass die aktuelle, sehr rechte Regierung in Italien nicht nur selbst nicht helfe – sondern die nicht-staatliche Seenotrettung aktiv behindere. Im Falle der Bootssichtung vom 28. Juli hätte Sea-Watch laut eigenen Angaben mit einem schnellen Schiff von Lampedusa aus in See stechen können. Italienische Behörden aber hatten die "Aurora" von Sea-Watch festgesetzt.
So etwas passiert nach Angaben verschiedener Organisationen öfter – teils dürfen die Schiffe mehrere Wochen lang nicht auslaufen. Meist unter dem Vorwurf, die Crews hätten bei Rettungsaktionen falsche Angaben gemacht oder Anweisungen nicht befolgt. Auch wenn italienische Gerichte derartige Auflagen zuletzt immer wieder kippten, waren die Schiffe doch über lange Zeit blockiert.
Neue Vorgaben aus Italien
Unter Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wurde zudem verfügt, dass nicht-staatliche Seenotrettungsschiffe nach jedem Einsatz zurück in den Hafen müssen – selbst dann, wenn sie noch Platz für weitere Menschen haben. Die Nichtregierungsorganisationen kritisieren zudem, dass die italienischen Behörden ihnen oft weit entfernte Häfen zuweisen. Statt Sizilien oder Lampedusa anzusteuern, müssten sie Kurs auf Norditalien nehmen, wodurch die Schiffe tagelang unterwegs seien. Das italienische Innenministerium äußerte sich auf unsere Anfrage nicht zu den Vorwürfen.
"Sterben vor unserer Haustür"
Für Lars Castelluci ist nach seinem Mitflug klar, dass die Seenotrettung so nicht funktionieren kann: "Es sterben weiterhin Menschen in großer Zahl und das vor unserer Haustüre", sagte er im BR-Interview. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen geht davon aus, dass seit 2014 über 32.000 Menschen im Mittelmeer verschwunden sind.
Die ganze Recherche hören Sie heute (22.10.) um 12.15 Uhr oder am 26.10. um 09.15 Uhr im Radioprogramm von BR24 oder jederzeit als Podcast unter diesem Link.
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