Den Namen Hans Kammler muss man sich merken. Von Haus aus Bauingenieur und Architekt und in einer führenden Position in der SS, war er von 1941 an verantwortlich für den Bau der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager. Zwei Jahre später übernahm Kammler die Leitung der unterirdischen Fabriken für Flugzeuge und Raketen, also auch des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora bei Nordhausen.
Die dunkle Figur hinter Wernher von Braun
Dort, im Norden von Thüringen, mussten Zwangsarbeiter unter schrecklichsten Bedingungen die angeblichen Wunderwaffen montieren. Hans Kammler war einer der Hauptverbrecher aus Deutschland – und gleichzeitig die dunkle Figur hinter Forschern wie Wernher von Braun. Steffen Kopetzkys Roman "Atom" zeigt Kammler in genau dieser Rolle.
"Leute wie Kammler, die alles organisiert und durchgeführt haben, kennt man eben nicht so", sagt der Schriftsteller aus Pfaffenhofen/Ilm. "Kammler ist einer der Herausragenden, mit einer einzigartigen Machtfülle. Aufgrund seiner organisatorischen Erfolge hat er eine Position nach der anderen Position an sich gezogen. Bis er dann am Ende des 'Dritten Reichs', wahrscheinlich, vermutlich – so sagen das die Historiker – der handlungsmächtigste Mann war."
Von Weimar zum Großen Terror unter Stalin
Hans Kammler taucht erst vergleichsweise spät auf in Steffen Kopetzkys Roman. Die Geschichte beginnt in den letzten Jahren der Weimarer Republik und erzählt zunächst von den drei zentralen Figuren. Alexander "Sascha" Scherschewsky, Hedwig von Treyden und Simon Batley begegnen einander in Berlin, sie besuchen die Vorlesung von Albert Einstein und erleben die Premiere von Fritz Langs Film "Frau im Mond", über die Eroberung des Weltraums.
Simon Batley – wie Hedwig von Treyden eine erfundene Figur – ist da bereits im Auftrag des britischen Geheimdienstes unterwegs. Er soll den aus der Sowjetunion stammenden Alexander Scherschewsky ausspionieren. Dieser, eine reale Figur, fällt 1937 dem Großen Terror unter Stalin zum Opfer. "Danach folgte die sogenannte 'Enthauptung' der Roten Armee", erklärt Steffen Kopetzky. "Der Tod von viereinhalb bis fünftausend Offizieren der Roten Armee. Scherschewsky war der erste."
Literarischer Chronist des 20. Jahrhunderts: der Schriftsteller Steffen Kopetzky aus Pfaffenhofen / Ilm
Auftritte von Winston Churchill und Ian Fleming
Der Blick in die Sowjetunion folgt der historischen Logik: Russen, Deutsche und Briten – und schließlich die Amerikaner – wetteiferten um eine neue, für die globalen Machtverhältnisse entscheidende Waffentechnik. Mit Simon Batley wird diese Geschichte aus englischer Perspektive erzählt und gelegentlich auch erzählerisch entsprechend ausgeschmückt. Winston Churchill etwa hat einen Auftritt in Steffen Kopetzkys Roman, ebenso der spätere James-Bond-Erfinder Ian Fleming, im Krieg Offizier beim britischen Marine-Nachrichtendienst.
Die Erzählzeit in Steffen Kopetzky verdichtet sich zunehmend, ein großer Teil von "Atom" spielt in den letzten Monaten und Wochen des Zweiten Weltkriegs – und der Schriftsteller vergleicht diese Konstruktion mit der parabelförmigen Flugbahn einer Rakete, ein interessanter Ansatz.
Eine Jagd durch Oberbayern
Simon Batley reist, mit den vorrückenden Amerikanern, nach Deutschland. Zusammen mit Hedwig von Treyden, die als Mathematikerin am deutschen Raketenprogramm in Peenemünde und dann in Mittelbau-Dora beschäftigt war, will er den Kriegsverbrecher Hans Kammler verhaften, der selbst immer weiter ostwärts flieht, bis nach Prag. Die Jagd führt unter anderem durch Oberbayern. Eine der Stationen – historisch verbürgt – ist Oberammergau. "Da waren die ganzen Raketenforscher untergebracht und warteten auf ihre Abholung durch die Amerikaner", sagt Steffen Kopetzky. "Das hat Kammler so arrangiert. Er selber residierte dann in Linderhof."
Angeblich hat sich Hans Kammler schließlich, um einer Verhaftung durch die Sowjets zu entgehen, am 9. Mai 1945 das Leben genommen. Es gibt mittlerweile gut begründete Zweifel an dieser Version. Es könnte ebenso sein, dass Kammler in die USA ging, wo man seinem Know How mit allergrößtem Interesse begegnete. Steffen Kopetzkys einnehmend erzählter Roman "Atom" – ein Agenten-Thriller – folgt dieser Möglichkeit. Daneben setzt der Schriftsteller seine literarische Vermessung der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf eindrückliche Weise fort.
Steffen Kopetzkys Roman "Atom" ist bei Rowohlt Berlin erschienen. Morgen (8.4.) liest der Schriftsteller in Nürnberg, im Casablanca Kino, Anfang Mai (6.5.) im Scharfrichterhaus Passau, dann in Pullach (9.5.), in seiner Heimatstadt Paffenhofen (10.5.) und in Schrobenhausen (11.5.).