Die Raketen benannten sie nach dem Landessymbol, der Zeder. Und sich selbst gaben sie den Namen "The Lebanese Rocket Society": eine Gruppe von Forschern und Nerds an einer Universität in Beirut. Am 4. August 1966 schrieben sie Geschichte. Die damals gestartete Rakete, die "Cedar 8", erreichte den Weltraum.
Anfänge in der Autowerkstatt
Pierre Jarawan erfuhr vor etlichen Jahren in einer Kunstausstellung von dieser Geschichte. Sie ließ ihn nicht mehr los. Am Anfang seien die Forscher eher dilettantisch vorgegangen, sagt der Münchner Schriftsteller. "Sie kauften Rohre, schweißten sie in Kfz-Werkstätten zusammen und mischten Schwarzpulver. Das wurde immer größer, immer professioneller. Und dann gelang es ihnen, mit einer Rakete den Weltraum zu erreichen."
Die Geschichte des libanesischen Weltraumprogramms verbindet Jarawan mit der einer Familie, der des Wissenschaftlers Maroun el Shami (entstanden nach dem Vorbild eines der Raketenpioniere von damals). Kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren wächst Maroun in Montreal auf, wie zeitweise auch seine spätere Frau Anoush. Frühzeitig – und angefixt durch Fritz Langs (Link zum Podcast) Stummfilm "Frau im Mond“ – interessiert er sich für die Raumfahrt.
Die libanesische Gemeinschaft in Kanada
Zeitweise lebt und arbeitet Maroun el Shami im Libanon, später dann wieder in Kanada. Noch als betagter Mann bastelt er gerne mit Backpulver und Essig Mini-Raketen und schickt sie zu besonderen familiären Anlässen in den Himmel. In Kanada lebten viele Libanesen, erzählt Pierre Jarawan. Seine Familie habe dort auch Verwandte. "Und mir war früh klar, dass, wenn ich 100 Jahre erzähle, dass wir mit Maroun eben keinen libanesischen Studenten in den 40er Jahren in Deutschland oder Europa haben können. Das ist historisch nicht machbar. Deswegen war klar, ich muss nach Übersee gehen."
Eine der beiden erwachsenen Enkeltöchter von Maroun el Shami – Lilit, ein Zwilling – erzählt die Geschichte im Roman "Frau im Mond". Zwei zentrale Ereignisse markieren dabei den historischen Anfangs- und Endpunkt. Mit der Biografie von Maroun el Shamis Frau Anoush wird der Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915/16 thematisiert (Link zum Podcast). Sie war damals ein Kind, floh vor der Gewalt an die Levante und fand zunächst Aufnahme in einem Waisenhaus in Beirut, ehe der Weg weiter nach Kanada ging. Lilit ergründet auch ihre bewegte Geschichte.
Erste Lesung aus dem neuen Roman: Pierre Jarawan zu Gast beim Festival Wortspiele 2025 in seiner Heimatstadt München.
Die Katastrophe vom 4. August 2020
Das andere historische Ereignis ist die furchtbare Explosion im Hafen von Beitrut am 4. August 2020 – auf den Tag genau 54 Jahre nach dem Start der "Cedar 8". Im Roman schildert Pierre Jarawan eindrücklich die Situation im Libanon unmittelbar vor dieser Katastrophe: eine verheerende Wirtschaftskrise, mit gewaltiger Inflation und horrenden Preisen für Grundnahrungsmittel. Die Regierung sperrt die Konten der Menschen im Land, chronisch Erkrankte haben kein Geld für lebensnotwendige Medikamente, es gibt keine Babynahrung.
"Lilit kommt in ein Land, zwar einerseits in großer Not, aber auch in einer wahnsinnigen Aufbruchsstimmung", sagt Pierre Jarawan über seine Erzählerin. "Es gibt Demonstrationen. Eine Revolution ist im Gang. Das Land träumt davon, diese alten Strukturen aufzubrechen. Und so war es auch. Bis es wenige Monate später zu dieser Tragödie im Hafen kam."
Eine Geschichte von Aufbruch und Absturz
Hier die ehrgeizigen Weltraumträume eines einmal modernen Landes, dort eine Gesellschaft im Ausnahmezustand, gezeichnet von den Folgen eines jahrelangen Bürgerkrieges, von Misswirtschaft und Instabilität – aber auch, bis zur Explosion vom August 2020, voller Hoffnung. Aufbruch und Einbruch, Aufstieg und Absturz, freier Fall. Mitten in alldem: eine Familie mit einer gebrochenen Geschichte – und all das glasklar, einnehmend erzählt, manchmal verspielt und überraschend, aber stets ohne Pathos, ohne Schwere. Pierre Jarawans Roman "Frau im Mond" ist ein Ereignis.
Pierre Jarawans Roman „Frau im Mond“ ist im Berlin-Verlag erschienen. Am 9. April liest der Schriftsteller in Schondorf am Ammersee, am 24. April in der Stadtbibliothek Augsburg, am 29. April im Literaturhaus München.