"Die Idee, alles, für alle und für jeden zu verbieten, ist derzeit der letzte Schrei in Russland. Und diese Situation ist äußerst schädlich und gefährlich – unabhängig davon, wie viele Verbotsinitiativen tatsächlich umgesetzt werden oder nicht", so Michail Rostowski, der Chefkolumnist der auflagenstarken russischen Zeitung "Moskowski Komsomolez" in einem aufsehenerregenden Leitartikel [externer Link].
Er fürchtet den Rückfall in "archaische Zustände" und fleht seine Landsleute an, "vorwärts statt rückwärts" zu gehen: "Wenn die Zahl der Verbote in einer Gesellschaft einen kritischen Punkt überschreitet, wenn Verbote nur noch aufgrund aufgestauter Trägheit in Kraft gesetzt werden, verliert diese Gesellschaft unweigerlich ihre Vitalität, ihren kreativen Impuls, verkümmert und wird zu einem blassen Schatten ihrer selbst."
"Nicht allein auf Verbote setzen"
Alles Sowjetische sei "gerade sehr in Mode", so die Beobachtung des Kommentators: "Nostalgie – insbesondere für die eigene Kindheit und Jugend – ist eine starke Kraft. Aber wollen wir wirklich jeden Aspekt der sowjetischen Erfahrung wiederholen – etwa die Listen verbotener Lieder, die von den 'Behörden' herausgegeben wurden, oder die Kommissionen der 'alten Bolschewiki', die über die Erlaubnis zur Auslandsreise entschieden?"
Strafmaßnahmen und Verbote dürften kein Selbstzweck sein, argumentiert Rostowski, sondern müssten "sorgfältig durchdacht und hundertfach geprüft werden, um ihre tatsächliche Notwendigkeit sicherzustellen": "Soziale Konsolidierung kann und sollte, selbst in Kriegszeiten, nicht allein auf Verboten und Beschränkungen beruhen." Grotesk an Rostowskis Argumentation: Er verweist auf Putin, der vor einer "blinden und dogmatischen" Gesellschaft ausdrücklich gewarnt habe, doch die Kreml-Elite ignoriere diese "sehr klaren und deutlichen" Worte.
"Wir steuern auf innerelitäre Fehden zu"
Deutlich sarkastischer kommentierte der russische Politologe Konstantin Kalaschew die Unterdrückungsmaßnahmen des Kremls. Dessen Funktionäre seien auf dem Weg in die Vergangenheit schon ziemlich weit gekommen [externer Link]: "Sie haben das 20. Jahrhundert hinter sich gelassen, Elemente des 19. Jahrhunderts wiederhergestellt, zu Zar Nikolaus I. gebetet, das 18. Jahrhundert erreicht, Peter dem Großen ihre Reverenz erwiesen, das 17. Jahrhundert hinter sich gelassen und fast den [aus dem Türkischen stammenden] Schlachtruf 'Goyda' von Iwan dem Schrecklichen und seiner Leibgarde erreicht."
Doch auch in deren Ära des 16. Jahrhunderts hätten sich die gegenwärtigen Machthaber nicht lange aufgehalten: "Sie sind weitergezogen. Wir haben sogar die Station 'Reise russischer Fürsten zur Goldenen Horde' [den Mongolen-Herrschern des 13. Jahrhunderts] hinter uns gelassen. Jetzt steuern wir auf innerelitäre Fehden mit begrenzten Ressourcen zu [wie im frühen Mittelalter]."
"Es gibt keine Garantien mehr"
Der mehrfach verhaftete Soziologe Boris Kagarlitzky verwies darauf [externer Link], dass die Unterdrückung unter Putin schlimmer und wahlloser sei als unter KP-Chef Leonid Breschnew (1906 - 1982): "Heutzutage gibt es keine Garantien mehr. Moderne Repressionen sind eine zufällige und äußerst beunruhigende Angelegenheit. Einerseits ist es unmöglich, jeden mit einer kritischen Position einzusperren; andererseits kann jeder verhaftet werden, wobei der Grund dafür völlig unklar ist. Daher erleben wir heute einen Anstieg der politischen Repression, der die schlimme politische Realität in unserem Land widerspiegelt."
Peter Jungblut
Zu Sowjetzeiten sei den meisten vollkommen klar gewesen, wo die Grenzen des Sagbaren verliefen, welche Texte veröffentlicht werden durften und welche nicht. Damals seien vor allem Intellektuelle unterdrückt worden, im Unterschied zu heute: "Die Repressionen sind umfassender, klassenloser und gleichzeitig erschreckender geworden. Tatsache ist, dass die Leute keine Grenzen kennen."
"Kampf um jeden Rubel"
Häufig werden Verhaftungen vom Kreml mit angeblichen Korruptionsvorwürfen begründet, weswegen nicht nur Politologe Alexander Semenow argwöhnt, es gebe auch finanzielle Gründe für die Unterdrückungsmaßnahmen [externer Link]: "Es herrscht buchstäblich ein Kampf um jeden Rubel. Zudem nimmt die Rolle der Sicherheitskräfte in allen Bereichen rapide zu. Und wir sehen die Menge an beschlagnahmtem Eigentum von Sträflingen. Das könnte durchaus zu einem gesonderten Posten im Haushalt werden. Wer die Behörden für blind und ignorant hält, scheint etwas naiv."
Der zum "ausländischen Agenten" erklärte Militärblogger Roman Aljechin, eigentlich ein "Ultrapatriot", schrieb verbittert [externer Link]: "Ich kann ich mir nicht vorstellen, wie ich es vermeiden kann, gegen das Agentengesetz zu verstoßen, wenn ich irgendetwas tue, insbesondere öffentlich. Ich habe einen Abschluss in Jura, aber ich verstehe nicht viel davon – es gibt keine klaren Grenzen. Also ist es besser, nichts zu tun."
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