Die Historiker Thomas Großbölting ist Teil des Forschungsteams, dass die Forum-Studie erstellt hat.
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Historiker: Evangelische Kirche war blind in Sachen Missbrauch

Historiker: Evangelische Kirche war blind in Sachen Missbrauch

Die Evangelische Kirche sieht sich gern als "modernere Kirche". Ein Selbstbild, das sie blind gemacht habe für sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen, sagt Thomas Großbölting, Co-Autor der neuen EKD-Studie. Jetzt müsse man sich "ehrlich machen".

Über dieses Thema berichtet: Theo.Logik am .

Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Einrichtungen der Diakonie in Deutschland: Erstmals gibt es nun dazu eine umfassende Studie. Thomas Großbölting ist Historiker an der Universität Hamburg und Co-Autor der EKD-Studie: "Wir haben mit der Studie gezeigt, dass die evangelische Kirche in all ihren Belangen zu allen Zeiten ein massives Problem mit sexualisierter Gewalt hat", sagt Großbölting im Gespräch mit dem BR Die evangelische Kirche habe sich zu lang im Schatten der katholischen Kirche versteckt. Die Katholiken hatten bereits 2018 im Rahmen der MHG-Studie mit der Missbrauchsaufarbeitung begonnen. "Mit der EKD-Studie haben wir jetzt den Beleg dafür, dass die Zahlen sich ganz ähnlich verhalten wie in der katholischen Kirche", sagt Großbölting.

Risikofaktor: Das Selbstbild, die "modernere Kirche" zu sein

"Die evangelische Kirche meinte ja, so hatte man das Gefühl, die bessere Kirche zu sein", beobachtete der Historiker, denn bei den Protestanten gebe es die spezifisch katholischen Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt nicht. Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer dürfen heiraten, es gibt weniger Hierarchien und Klerikalismus.

Ein interessantes Ergebnis für den Forscher: Gerade das Selbstbild der evangelischen Kirche, die "modernere Kirche" zu sein, "partizipativer, organisierter, demokratischer", habe dazu geführt, dass "man das Problem der sexualisierten Gewalt tatsächlich lange nicht offen angegangen ist", sagt Thomas Großbölting. Er hofft, dass die nun veröffentlichte Studie ein "Weckruf" für die evangelische Kirche ist.

Flache Hierarchien begünstigen Missbrauch und Vertuschung

Die am 25. Januar veröffentlichte EKD-Studie stellt u.a. verschiedene Risikofaktoren fest, die sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche begünstigt haben. Ist in der katholischen Kirche das Bild vom unfehlbaren Pfarrer oder Bischof ein Problem, ist es in der evangelischen Kirche paradoxerweise gerade die flache Hierarchie, die Missbrauch wie auch Vertuschung begünstigt. Der Pfarrer als Freund, als Bezugsperson, als Kumpel mache für Täter Übergriffe leichter und zugleich die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt "in doppelter Hinsicht schwierig". Der Historiker sagt in Bezug auf die evangelischen Landeskirchen: "Es gibt eine gewisse Verantwortungsdiffusion, eine Machtvergessenheit, die dazu führt, dass Betroffene, wenn sie denn ihre Leiderfahrungen hörbar machen, an niemanden treffen, der das ernst nimmt und das weiterverfolgt."

Von Missbrauch Betroffene werden als Störenfriede abgestempelt

Der Historiker beobachtet zudem, dass Menschen, die auf Missstände aufmerksam machen oder selbst betroffen sind, auch in der evangelischen Kirche schnell als Störenfriede abgestempelt werden, die dann auch aus der Gemeinschaft der Gläubigen sozial ausgeschlossen werden. "Das ist ein zusätzlicher Missbrauchs-Risikofaktor. Für mich war frappierend, dass die Parallelen zwischen katholischer und evangelischer Kirche mit Händen zu greifen sind", sagt der Mitautor der Studie. "Es ist eigentlich fast schnuppe, ob Sie geweihter katholischer Priester oder ordinierter lutherischer Pfarrer sind: In beiden Fällen haben Sie als Missbrauchstäter ein Machtverhältnis gegenüber denjenigen, die als Gläubige zu Ihnen kommen." In beiden Fällen bestehe die Möglichkeit, dieses Machtverhältnis auszunutzen.

Die Schattenseiten der sexuellen Befreiung

Die 1960er und 70er Jahre wurden in der historischen Forschung als eine Zeit der Demokratisierung und der Liberalisierung wahrgenommen, die zu einem großen Freiheitsgewinn führte. Was erst jetzt ins Bewusstsein komme, sei, dass der Freiheitsgewinn in einigen Fällen auch zulasten von Kindern und Jugendlichen ging, so der Forscher. Schon länger sei klar, dass etwa die Sexualpädagogik, die dem damaligen Zeitgeist entsprungen sei und Sex mit Kindern verharmlost habe, immensen Schaden angerichtet hat. Das betreffe auch liberale Milieus in der evangelischen Kirche, denn auch dort habe die Aufbruchsbewegung der Hippie-Zeit ihren Niederschlag gefunden.

Dabei sei wichtig zu sehen, so Historiker und Co-Autor der EKD-Studie Thomas Großbölting, dass sexualisierte Gewalt nicht per se auf die gesellschaftliche Liberalisierung dieser Zeit zurückzuführen sei. Vielmehr hätten Täter das liberale Klima ausgenutzt. Zudem habe es auch in den prüden 1950er und 60er Jahren sowie im konservativen evangelischen Milieu sexualisierte Gewalt gegeben. "Sexualisierte Gewalt, das ist, glaube ich, die Botschaft, die von der Studie ausgeht, ist ein Phänomen, was zeitunabhängig, auch unabhängig vom jeweiligen pastoralen Stil überall zu beobachten ist", sagt Thomas Großbölting.

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