Blick in eine Kameralinse zwischen schwarzen Vorhängen
Blick in eine Kameralinse zwischen schwarzen Vorhängen
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Paul Mpagi Sepuya: Drop Scene (0X5A0936), 2018, Ausschnitt.
Bildrechte: Paul Mpagi Sepuya, courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich / Paris
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Bildrechte: Paul Mpagi Sepuya, courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich / Paris
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Paul Mpagi Sepuya: Drop Scene (0X5A0936), 2018, Ausschnitt.

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"On View": Ikonen der Fotografie in der Pinakothek der Moderne

"On View": Ikonen der Fotografie in der Pinakothek der Moderne

Mehr als 10.000 Fotos gehören zum Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, von der Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre bis zur modernen künstlerischen Fotografie ab den 70ern. Zum ersten Mal sind nun alle Sammlungsbestände gemeinsam "On View".

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Sechs quadratische Farbfotos nebeneinander, es sind Straßenszenen in Kleinstädten oder Dörfern, irgendwo im Süden, es sieht trocken aus. Ein Mann schützt sich mit einem Schirm vor der Sonne. Doch dann sind da diese Irritationen: Ein blaues Auto fährt durchs Bild und verschwindet halb im Nebel. Manche Menschen haben extrem lange, tiefschwarze Schatten, als würden sie Ölspuren hinterlassen. Und der Schirm des Mannes findet sich plötzlich riesengroß auf dem Asphalt wieder: War hier ein Straßenkünstler am Werk?

Die Bildstörung als Bild der Zeit

Nein. Es sind Glitches, Bildstörungen. Die Künstlerin Mame-Diarra Niang hat ihre Fotos nicht an Ort und Stelle aufgenommen, sondern von Google Street View abfotografiert. "Das ist eine Arbeit, die Mame-Diarra Niang 2020 während des Lockdwons gemacht hat", erklärt Kuratorin Franziska Kunze. "Als sie nicht reisen konnte ist sie mit ihrem Cursor am Bildschirm durch Südafrika gereist und ist dann auf diese Glitches gestoßen, die aufgrund der 360-Grad-Kameratechnik manchmal entstehen."

Die Glitches entsprachen genau ihrer Stimmung von Zerrissenheit und Störung. Straßenfotografie von heute, aus dem Home-Office sozusagen. Ein Stück Wirklichkeit, die nicht selbst erlebt wurde, sondern als Auswahl aus der digitalen Welt zu uns kommt.

Bildrechte: Mame-Diarra Niang / courtesy the artist and Stevenson, Cape Town, Johannesburg, Amsterdam
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Mame-Diarra Niang: Turn #2, aus der Serie: Call Me When You Get There, 2020, Ausschnitt.

Direkt daneben drei Schwarzweiß-Aufnahmen von Friedrich Seidenstücker aus dem Berlin der 30er Jahre: ein Kofferträger, ein Müllarbeiter, ein Altpapierträger. Drei Männer in Bewegung, mit ihren voluminösen Tonnen, Paketen und Kisten auf dem Rücken sehen sie aus wie wandelnde Skulpturen.

Erstmals werden in dieser Ausstellung die Sammlung Ann und Jürgen Wilde mit dem Schwerpunkt Fotografie der Neuen Sachlichkeit aus den 20er und 30er Jahren und die Sammlung Zeitgenössische Fotografie und zeitbasierte Medien mit künstlerischer Fotografie ab den 70er Jahren zusammen ausgestellt.

250 Werke von mehr als 60 KünstlerInnen

Es ist faszinierend, wie gut das funktioniert, wie eng sich die Themen und Motive trotz der zeitlichen Distanz immer wieder verschränken. Egal ob Landschaft, Porträt oder Objektfotografie: Am Ende gibt es immer einen gemeinsamen Nenner: Künstlerische Fotografie dreht sich immer auch um das Sehen an sich. Nicht um den Schnappschuss, sondern um komplexe Bildkonzepte, um Fokussierung, Ausschnitt, Inszenierung, sagt Simone Förster, Sammlungsleiterin der Stiftung Ann und Jürgen Wilde: "Die Fotografie ist die Möglichkeit, etwas zu zeigen, was mit dem reinen Blicken durch das Auge das bloße Auge eigentlich nicht so zu sehen oder wahrzunehmen ist. Und erst die Fotografie fokussiert auf etwas, wählt einen Ausschnitt, kommt so nahe und oder zeigt Konstellationen, wie sie momenthaft sind, wie sie einem begegnen, aber oft nicht so bewusst wahrnehmbar sind."

Fotos über das Sehen

Thomas Struths große Farbfotografie "Art Institute of Chicago" zeigt Menschen, die Gemälde betrachten. Eine Frau im rotkarierten Kleid mit Kinderwagen, eine andere mit den Händen in typischer Museumshaltung hinter dem Rücken verschränkt. Beide blicken auf eine Straßenszene: Paris bei Regen. Daneben eine Schwarzweiß-Fotografie von Aenne Biermann von 1929: der Blick aus ihrem Atelierfenster auf die Rückwand eines anderen Hauses. Es scheint, als würden die Fenster von dort zurückblicken.

Bildrechte: Thomas Struth
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Thomas Struth: Art Institute of Chicago 2, Chicago 1990, Ausschnitt.

Extremen Close-Ups von Mohnkapseln von Karl Blossfeld. Ein Blick auf ein paar Gläser du ihre Schatten auf einem Tisch von Albert Renger-Patsch. Ufo-artige Wassertürme von Bernd und Hilla Becher. Wolfgang Tillmanns Paperdrop, ein zum blutroten Tropfen zusammengerolltes Plakat. Thomas Demands Fotos unheimlicher Räume: In dieser Ausstellung reiht sich eine Ikone der Fotografe neben die andere, von August Sanders "Drei Jungbauern" aus dem Jahr 1914 bis zur erst kürzlich abgeschlossenen Serie "The Brown Sisters" von Nicholas Nixon.

Foto-Ikonen unter sich

Seit 1975 trafen sich die vier Schwestern einmal im Jahr und ließen sich fotografieren, immer in Schwarzweiß, immer in der gleichen Aufstellung. Ein einzigartiges Langzeitprojekt. 2022 erklärten die Schwestern das Projekt für beendet, um jeglicher Form von Schicksal zuvorzukommen. Zum ersten Mal sind die 48 Fotografien nun in ihrer Gänze zu sehen. Ein fotografischer Versuch, Zeit zu erfassen, vielleicht sogar das Menschsein an sich. Auf jeden Fall: das Wesen menschlicher Beziehungen.

10.000 Fotografien umfassen die Bestände der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, die Auswahl für die Ausstellung: eine Qual. Aber die Kuratorinnen haben sich klug an ihre Sache gehalten und genau das gemacht, was eben auch die Fotografie macht: Fokussieren, inszenieren, Parallelen aufzeigen, und so vom flüchtigen Blick zum echten Hinschauen und weiter zum Denken lenken.

"ON VIEW. Begegnungen mit dem Fotografischen": Bis 12. Oktober in der Pinakothek der Moderne in München.

Bildrechte: Nicholas Nixon, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco
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Nicholas Nixon: The Brown Sisters – 1984: Truro, Massachusetts, (Fotografie 10 aus der 48- teiligen Serie "The Brown Sisters"), 1984.

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