Am Rednerpult beim Bericht zur wirtschaftlichen Lage
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Der russische Ministerpräsident Michail Mischustin im Parlament

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"Nur noch für Holzköpfe": Wann geht Putin das Geld aus?

"Nur noch für Holzköpfe": Wann geht Putin das Geld aus?

Der Kreml verspricht laufend neue Wohltaten, doch Wirtschaftsfachleute bezweifeln, dass sich Russland den Krieg noch lange leisten kann. Massenproteste werden jedoch ausgeschlossen, auch bei "leeren" Supermarkt-Regalen: "Die Leute hungern dann eben."

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

"Wo ist das Geld, Zin?" sang einst der populäre sowjetische Liedermacher Wladimir Wyssozki (1938 - 1980) in seinem ironischen Lied "Dialog im Fernsehen" von 1973, in dem die TV-Diskutanten als "Papageien" geschmäht werden, die wahlweise in Jersey oder zu kurzen T-Shirts auftreten: "Es wäre besser, wenn sie ihren Mund hielten." Putin zitierte einst die Frage von Wyssozki, wo das nötige Geld für alle möglichen Wohltaten sei und machte sie dadurch in Russland zu einem geflügelten Wort.

Als der russische TV-Journalist Dmitri Kisselew kürzlich die Floskel aufgriff und vom Präsidenten wissen wollte, ob sich alle angekündigten Sozialleistungen tatsächlich finanzieren lassen, antwortete Putin unverdrossen: "Alles entspricht vollständig den Haushaltsregeln und ist in der Tat recht konservativ berechnet, da einige Experten der Meinung sind, dass es noch mehr Einnahmen geben sollte und geben wird."

"Geld geht allmählich zur Neige"

Ministerpräsident Michail Mischustin versprach bei seinem jüngsten Auftritt im russischen Parlament ebenfalls "Milch und Honig", rühmte das Wirtschaftswachstum, redete die Sanktionen klein und versprach "systematische Maßnahmen um das Wohlergehen der Russen zu steigern". Propapandisten wie Sergej Markow bejubelten die "Siegesansprache" geradezu euphorisch: "Die Wirtschaft reagierte mit Wachstum in allem. Die ganze Welt ist wirklich erstaunt über den Erfolg der russischen Wirtschaft."

Wenig verwunderlich, dass die russische Propaganda die wirtschaftliche Lage "beeindruckend und optimistisch" darstellt, doch die eigenen Wirtschaftsexperten warnen: "Das Geheimnis des Wachstums ist durch die Militärausgaben begründet, die natürlich aus dem Staatshaushalt und der 'geschätzten Spardose' stammen. In Wahrheit ist der Ersatz von importierten Gütern in Russland in vielerlei Hinsicht gescheitert, Staatskonzerne sind in Skandale und Unterschlagungen verwickelt, und überall gibt es eine Menge Schulden und finanzielle Fallstricke. Das Geld geht allmählich zur Neige und der Boden der russischen Spardose ist nicht mehr weit."

"Kluft zwischen Fernsehen und echtem Leben"

Russische Leser wähnten sich nach Mischustins Wohlfühl-Auftritt im "falschen Film" und meinten: "Ich freue mich sehr für Mischustin, die Zahlen sind sehr schön und beeindruckend, dennoch ändert sich nichts, der Lebensstandard sinkt, die Preise steigen sprunghaft, Menschen gehen weg, kranke Kinder erhalten das Geld für die Behandlung per SMS-Spenden. Die Kluft zwischen Fernsehen und echtem Leben wächst unglaublich." Die Putin-Propaganda ziele nicht mal mehr auf "unwissende Bürger", sondern eigentlich nur noch auf Holzköpfe wie Pinocchio. Es empfehle sich, den Wohlstand "in echtem Geld, nicht in Rubel" zu berechnen: "Ansonsten stellt sich heraus, dass die Haushaltseinnahmen in Simbabwe während der Zeit der Hyperinflation am stärksten wuchsen."

"Wir sind ins Schwimmen geraten"

Offiziell betrage die Inflation 7 Prozent, in Wirklichkeit seien es mehr als 15 Prozent, so ein Diskutant: "Das heißt, um den Haushalt auf dem Papier auszugleichen, wurden mehr Rubel gedruckt, um das Defizit zu decken. Wir sind ins Schwimmen geraten – wir wissen, wie alles endet." In russischen Oligarchenkreisen geht derweil die Angst vor einer Wieder-Verstaatlichung großer Konzerne um. Putin drückte sich diesbezüglich vieldeutig aus und kritisierte wiederholt Leute, die sich bei der chaotischen Privatisierung in den neunziger Jahren die "Taschen voll" gemacht hätten.

Die russische Zentralbank warnt nahezu wöchentlich vor einer Überschuldung der Verbraucher und ein Duma-Abgeordneter bilanziert düster: "Daher ist das Wachstum der russischen Wirtschaft natürlich Wachstum, aber aus irgendeinem Grund haben die Behörden es nicht sonderlich eilig, die Gründe darzulegen. Um unangenehme Fragen zu vermeiden, schweigen russische Beamte über die tatsächliche Lage in der Wirtschaft."

"Leute hungern dann eben"

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagte der bekannte russische Ökonom und Blogger Igor Lipsiz, der sich als "Realist" bezeichnete, fast gleichlautend: "Mir und auch anderen Ökonomen scheint, dass Russland in diesem Jahr den Krieg noch finanzieren kann. Aber danach ist unklar, wo das Geld herkommen soll." Die Regierung habe bereits angekündigt, sich an den Spareinlagen der Russen zu vergreifen, um den Krieg zu finanzieren: "Wenn das so kommt - und Putin hat der Regierung aufgetragen, das aktiv zu verfolgen -, ist das eine echte Bedrohung für die Stabilität des Bankensystems." Die Ersparnisse lägen ja nicht auf den Konten, sondern seien in die Wirtschaft investiert.

Selbst noch mehr Steuern und "leere" Regale in den Supermärkten würden jedoch nicht zu "Massenprotesten" führen, so Lipsiz sarkastisch: "Die Leute hungern dann eben, Rentner nehmen nur noch billige Medikamente und sterben einfach. Die politische Situation wird sich nicht ändern."

"Hier liegt das eigentliche Risiko"

In den auflagenstarken "Moskowski Komsomolez" herrscht geradezu Alarmstimmung, weil die Löhne in der Rüstungsindustrie (und an der Front) wegen der knappen Arbeitskräfte zwar stark steigen, das Warenangebot allerdings bei weitem nicht mithalten kann: "Das Wachstum der Reallöhne führt zu einem Anstieg der Verbrauchernachfrage, was wiederum die Inflation beschleunigt. Hier liegt das eigentliche Risiko", so Igor Nikolajew, Chefexperte am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften. Auch er lässt keinen Zweifel daran, dass das rein rüstungsgetriebene "Wachstum" niemanden "in die Irre führen" solle.

"Der Premierminister machte keine Angaben dazu, wie die Steigerung der Produktion elektronischer Kriegsführungssysteme, von Munition und gepanzerten Fahrzeugen, das Leben der Menschen verbessern, neue Straßen schaffen und die heruntergekommene Infrastruktur sanieren wird", so Exil-Politologe Anatoli Nesmijan. Ein weiterer russischer Blogger scherzte bitter: "Es ist beängstigend. Wenn Mischustin sagt, dass das medizinische Angebot bald in allen Teilen Russlands gleichermaßen 'hochwertig und zugänglich' sein werde, dann ist das Schlüsselwort hier 'gleichermaßen'. Das heißt, Moskau wird bald wie [die Kleinstadt] Taischet in der Region Irkutsk werden und nicht umgekehrt."

Leo Tolstois Koffer ist leer

Der Rubel werde weiter drastisch abstürzen, vermutet ein russischer Ökonom, weil zum 1. April ein wahlkampfbedingter "Noterlass" von Putin ausgelaufen sei, der den Devisenhandel erschwerte. Investoren würde ihre fällig werdenden Dividenden daher jetzt eilig in "harte" Währungen umtauschen. Die Ölmarkt-Expertin Anna Klischina seufzte in ihrem YouTube-Blog, Russland könne "viel Potential" haben, wenn der Kreml sich nicht neuerdings an Entwicklungsländern orientieren würde: "Sagen wir mal, es ist unwahrscheinlich, dass Putins Russland in der jetzigen Form in den kommenden Jahrzehnten irgendetwas anbieten oder große Fortschritte machen kann."

Für Scherze ist dennoch Zeit. Zur Kriegs-Konjunktur bemerkte ein Kommentator: "Leo Tolstoi kehrt aus dem Ausland nach Russland zurück, stellt seinen Koffer ab, breitet euphorisch die Arme aus und zeigt sich begeistert darüber, wie seine Heimat 'aufgeblüht' und alles hübscher geworden sei. Dann will er seinen Koffer weitertragen und stellt fest, dass der inzwischen geleert wurde: 'Ach nein, es ist doch alles gleich geblieben.'"

Im Audio: Wird Russland gewalttätiger?

Russische Polizisten führen einen Terrorverdächtigen ab.
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