Menschen protestieren mit einer Deutschlandfahne mit der Aufschrift "Unser Land zuerst" vor der Siegessäule in Berlin.
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Gestiegene Preise und Politikverdrossenheit haben Folgen für Millionen von Menschen: Angst vor Armut und sozialem Abstieg.

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Erosion der Mittelschicht: "Herd für soziale Spannungen"

Erosion der Mittelschicht: "Herd für soziale Spannungen"

Die Belastung mit Steuern und Abgaben ist in Deutschland so hoch wie in fast keinem anderen Industrieland. Das trifft vor allem die Mittelschicht. Droht das deutsche System an seine Grenzen zu kommen? Ein Expertengespräch.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Es gärt in der Mittelschicht. Sie trägt die Hauptlast des deutschen Steuer- und Sozialsystems. Gleichzeitig befeuern Diskussionen um Radwege in Peru, die Deutschland mit hohen Millionenbeiträgen finanzieren würde, das Gefühl: Für vieles würde Deutschland Geld ausgeben, nur nicht für die Probleme im eigenen Land.

Tatsächlich haben gestiegene Preise und aufkommende Politikverdrossenheit Folgen für Millionen von Menschen: Die Angst vor Armut und sozialem Abstieg lähmt die Mittelschicht. Im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) erklärt Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki, der selbst schon die Politik beraten und für Ministerien gearbeitet hat, wo die Probleme der Mittelschicht liegen und welche Lösungsansätze verfolgt werden könnten.

BR24: Ist die Mittelschicht in Deutschland am Ende?

Klemens Skibicki: Nein, am Ende nicht. Aber es ging ihr schon mal besser und wir sollten dafür sorgen, dass es ihr wieder besser geht, denn die Last ist sehr, sehr groß. Wir haben dieses Phänomen "Breite Mittelschicht" seit der Entwicklung des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg und man kann sagen, ab Mitte der Neunziger geht es denen nicht mehr so gut.

Das hat mehrere Gründe: Einmal von außen die Globalisierung. In den 90er-Jahren wurden China und Osteuropa geöffnet, das heißt da kam mehr Druck auf die Lohnentwicklung, da konnte man Lohnsteigerungen nicht mehr so durchsetzen. Dann kam die Belastung, dass die Arbeitnehmer eben die Sozialversicherungslasten tragen und die bei der demografischen Entwicklung, die wir haben, dazu führt, dass die Belastung immer größer wird. Das ist natürlich keine gute Entwicklung, wenn nicht mehr reinkommt und gleichzeitig die Belastungen steigen.

Frust der Mittelschicht: "Herd für soziale Spannungen"

BR24: Also ist die Mittelschicht zu stark belastet und das fördert das Gefühl der Mittelschicht: "Alles, was es in Deutschland an Sozialleistungen gibt, wird von uns finanziert, aber selber haben wir immer weniger übrig am Ende des Monats"?

Skibicki: Die Steuer- und Abgabenlast ist in Deutschland mittlerweile auf dem zweithöchsten Niveau der Industriestaaten angekommen. Wenn wir überlegen, in den 60er-Jahren brauchte man das Fünfzehnfache des durchschnittlichen Lohnes, um im Spitzensteuersatz zu landen, in den Neunzigern das 3,2-fache und heute ungefähr das 1,3-fache. Das heißt, die kalte Progression hat da gewirkt.

Und wenn man jetzt sagt, die Mittelschicht finanziert alles und gleichzeitig gehen Sozialleistungen rauf, also: "wir zahlen immer mehr Lasten, sodass wir selbst weniger netto haben", dann führt das natürlich zum Frust und das ist der Herd für soziale Spannungen.

Grafik: Die Steuer- und Abgabelast in den OECD-Staaten im Vergleich

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Unter den OECD-Staaten rangiert Deutschland nach Belgien auf Platz zwei, was die Belastung mit Steuern und Sozialabgaben betrifft.

Übernimmt sich der Staat mit seinen Aufgaben?

BR24: Warum ist die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland so hoch?

Skibicki: Wir haben in Deutschland eine staatliche Kultur entwickelt, dass man eben sagt: Der Staat kümmert sich um viele Maßnahme, wie eben zum Beispiel die Sozialversicherungssysteme. Die sind nicht reformiert worden. Wir haben ein System, bei dem es zum Problem kommt, wenn wir aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger Junge und immer mehr Alte haben, also immer weniger Menschen die immer größer werdende Zahl der Rentner finanzieren muss.

Das hat man lange nicht reformiert, sodass die Last schon dort automatisch steigt. Dazu haben wir natürlich auch ein Krankenversicherungssystem, das immer besser wird, aber damit eben auch immer teurer wird. Der Staat übernimmt einfach sehr, sehr viele Aufgaben und deswegen kann die Belastung nur steigen. Man müsste das Ganze also wieder zurückdrehen.

Also wenn der Staat sich eher auf die Kernleistungen konzentrieren würde und für viele Bereiche der Altersvorsorge, der Krankenversicherung würden wir marktwirtschaftliche Systeme verwenden, dann könnte auch die Überlastung sinken. So wird die Belastung zwangsläufig immer größer werden.

BR24: Funktioniert das System, wie wir es in Deutschland haben, gar nicht anders?

Skibicki: Der Sozialstaat ist halt immer weiter expandiert, auch wenn man immer Schlagworte wie "sozialer Kahlschlag" hört, das entspricht einfach nicht der Realität. Der Sozialstaat ist immer weiter gewachsen, und wenn man gleichzeitig kein Wirtschaftswachstum oder wenig Wirtschaftswachstum hat, dann kann man eben auch weniger verteilen. Und das, was der Staat sich wegnimmt, zur Erfüllung der Leistungen, von denen er immer mehr an sich genommen hat, dann bleibt eben weniger für die, die es erwirtschaften, über.

Im Video: Zukunftsangst – Ist die Mittelschicht am Ende? Possoch klärt!

Die Lücke, die die Babyboomer hinterlassen werden

BR24: Wenn die Babyboomer in Rente gehen, potenzieren sich diese Probleme nochmal. Ist das ein deutsches Sonderproblem?

Skibicki: Unsere Sozialversicherung ist ein Umlagesystem. Und obwohl wir schon seit Jahrzehnten wissen, dass das bei einer schrumpfenden Bevölkerung nicht funktionieren kann, wenn immer weniger Beitragszahler immer mehr Empfänger finanzieren müssen, haben wir es nicht reformiert. Wir haben es nicht auf ein anderes Bein wirksam gestellt.

In anderen Ländern wurde das gemacht, auf breitere Basis gestellt. Dazu haben wir auch noch in Deutschland eine geringere Vermögensbildung, geringere Immobilien-Besitzquote, das heißt, alles, was für Altersvorsorge zutrifft, wurde in anderen Ländern anders gemacht. In Deutschland hat sich der Staat lange drum gekümmert. Einige Politiker haben erzählt, das bleibt auch so, ist auch alles sicher – wo man eigentlich weiß, dass es nicht funktionieren kann.

Und diesen Reformstau haben wir jetzt. In wenigen Jahren, wenn die Babyboomer in Rente gehen, wird das ziemlich ungemütlich werden, weil natürlich dann immer mehr aus den Steuern dort ins System transferiert werden muss, damit überhaupt noch Renten gezahlt werden können. Da wären richtige Reformen endlich mal angesagt.

Deutsches Wirtschafts- und Sozialsystem: "grundsätzlich völlig überdenken"

BR24: Was sind also Lösungsansätze?

Skibicki: Wie können wir private Vermögensbildung fördern? Man hat das ja schon mal probiert mit der Riester-Rente. Aber wenn man dann natürlich Produkte nimmt, die nicht risikoreich investieren können, dann sollten wir schon diese ganzen Ideen um Aktienrente, Staatsfonds und so weiter auf jeden Fall genauer anschauen.

Und dann sollten wir eine Gesamtüberlegungen machen: Wie können wir die Belastung senken, damit gleichzeitig mehr für Investitionsbildung bei den Haushalten da ist. In vielen anderen Ländern sind die Haushalte reicher und der Staat ärmer. In Deutschland hat der Staat sehr viel Geld zur Verfügung, was er sich eben nimmt, um viel mehr staatliche Aufgaben zu erfüllen, aber da haben die Bürger weniger davon. Wenn man den Bürgern weniger lässt, können sie natürlich auch weniger selbst fürs Alter vorsorgen.

Das sollte man einmal grundsätzlich völlig überdenken. Das hat jahrelang gefehlt. Wenn dann auf einmal die Not groß ist, werden sie alle sagen: hätten wir es mal gemacht.

BR24: Reicht ein anderer Umgang mit den Einnahmen und Ausgaben oder muss Deutschland seine Arbeitsart ändern, also weg von der Industrienation hin zu anderen Kompetenzen?

Skibicki: Deutschlands Wohlstand heute basiert auf der erfolgreichen Vergangenheit mit einem breiten Mittelstand als Industrienation. Natürlich hätte man sich fürs digital vernetzte Zeitalter seit sehr, sehr, sehr vielen Jahren schon neu aufstellen müssen. Wir haben eigentlich das Gegenteil gemacht.

Wir haben vor allen Dingen dafür gesorgt, dass man schimpft auf die amerikanischen oder chinesischen Konzerne, die im digital vernetzten Zeitalter erfolgreich ist: Wie kann man die einhegen? Wie kann man deren Macht begrenzen? Anstatt sich mal grundlegend zu fragen: Warum sind die eigentlich erfolgreich? Wie müssen wir die Rahmenbedingungen setzen, damit das auch hier entsteht, damit auch hier solche digitalen Champions in großer Zahl entstehen? Dann könnten wir auch mehr von unserer Industriebasis wegkommen.

Das ist jetzt nicht möglich. Wir können nicht schon was wegstreichen, ohne was Neues zu haben. Aber sich grundsätzlich mit dem Strukturwandel zu beschäftigen und die Rahmenbedingungen richtig zu setzen, das wurde in den letzten Jahren nicht in dem Maße gemacht. Wir haben in die falsche Richtung gedacht. Und wenn wir Nichts fürs neue, digital vernetzte Zeitalter haben und gleichzeitig die Industriebasis wegbricht, dann wird es doch eher eng und Verteilungskämpfe sind zu erwarten.

BR24: Danke für das Gespräch.

Dieser Artikel ist erstmals am 28. Januar 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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