In Deutschland ist der Zugang zu ärztlicher Betreuung so niedrigschwellig wie kaum anderswo auf der Welt. Patienten können, sofern sie einen Termin bekommen, frei entscheiden, welche Haus- oder Facharztpraxis sie aufsuchen. Doch diese freie Arztwahl ist nach Einschätzung vieler Fachleute nicht effizient. Deswegen haben sich die künftigen Koalitionspartner Union und SPD darauf geeinigt, dass sie für Kassenpatienten ein "verpflichtendes Primärarztsystem" schaffen wollen.
Der Begriff lehnt sich an ein Konzept an, das im Englischen "Primary care" heißt. Dahinter steht die Idee, dass Patienten stets zunächst eine bestimmte Anlaufstelle aufsuchen. Dort soll medizinisches Fachpersonal einschätzen, welche Versorgung sinnvoll ist und entweder selbst die Behandlung übernehmen oder die Patienten an andere Stellen weiterleiten. In der Regel sind diese Erstanlaufstellen die Hausarztpraxen.
Im Ausland weit verbreitet
Solche Regelungen gibt es in vielen Ländern, etwa in Skandinavien und den Niederlanden, aber auch in Spanien oder Italien. Viele Gesundheitswissenschaftler sehen Vorteile in einem solchen System und verweisen auf Studien, wonach Länder mit Primärarztsystemen bessere Ergebnisse bei der Versorgung der Patienten erzielen, bei niedrigeren Kosten. Deutschland hat das teuerste Gesundheitswesen der EU, schneidet bei vielen Qualitäts-Kennzahlen aber nur mittelmäßig ab.
Pläne noch allgemein
Wie genau das Primärarztsystem aussehen soll, das Union und SPD vereinbart haben, ist offen. Es solle grundsätzlich weiter eine freie Arztwahl geben, betonen die Beteiligten. Das heißt, dass Patienten eine Primärarzt-Praxis aussuchen, bei der sie sich für einen bestimmten Zeitraum einschreiben.
Nach dem Koalitionsvertrag soll es auch Ausnahmen vom Primärarztsystem geben: Wer Probleme mit den Augen hat oder einen Termin in einer gynäkologischen Praxis ausmachen möchte, soll nicht über eine Primärarzt-Praxis gehen müssen. Und es soll möglich sein, dass chronisch Kranke eine bestimmte Facharztrichtung aussuchen, die dann für sie die primärärztliche Betreuung übernimmt.
Unterschiedliches Echo
In der Ärzteschaft gibt es unterschiedliche Einschätzungen zu den Plänen für ein Primärarztsystem. Der Deutsche Hausärztinnen- und Hausärzteverband mit rund 32.000 Mitgliedern sieht darin "einen absolut richtigen Schritt". Der Bayerische Facharztverband (BFAV) hingegen argumentiert, direkt Facharztpraxen aufsuchen zu können, sei "für mündige Patienten bei vielen Krankheiten die bestmögliche, effektivste und kostengünstigste Behandlung". Der BFAV, der rund 1.000 Mitglieder hat, warnt "vor einer unumkehrbaren Beseitigung der niedergelassenen Fachärzte mit katastrophalen Folgen, mit endlosen Wartezeiten für Patienten".
Primärarztsystem gab es schon einmal
Etwas ganz Neues wäre ein Primärarztsystem in Deutschland nicht. Bevor im Jahr 1995 die Chipkarte für Kassenpatienten eingeführt wurde, bekamen gesetzlich Versicherte von ihrer Kasse einen Krankenschein, den sie einmal im Quartal bei einer Hausarztpraxis abgeben konnten. Dort wurden gegebenenfalls Überweisungen für Facharztbehandlungen ausgestellt.
Vorbild Hausarztverträge
Die Grundidee des Primärarztsystems findet sich auch in Hausarztverträgen, die die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland seit rund 20 Jahren anbieten. Wenn Patienten sich dort einschreiben, verpflichten sie sich, zunächst eine bestimmte Hausarztpraxis zu kontaktieren. Nach Angaben des Hausärzteverbandes sind in Bayern derzeit 1,3 Millionen Menschen in solche Verträge eingeschrieben, bundesweit sind es knapp zehn Millionen. Das ist nicht ganz ein Siebtel der rund 74 Millionen Kassenpatienten.
Der Anreiz, sich einzuschreiben, soll vor allem eine besonders intensive Betreuung sein. Finanzielle Vorteile haben eingeschriebene Patienten, je nach Ausgestaltung des Hausarztvertrags durch ihre Kasse, in der Regel nur wenige oder gar keine. Die Praxen hingegen erhalten für eingeschriebene Patienten höhere Honorare für die intensivere Betreuung. Sanktionen für Patienten, die direkt Facharztpraxen aufsuchen, obwohl sie in einen Hausarztvertrag eingeschrieben sind, gibt es in der Regel nicht.
Primärarzt-Tarife in der PKV
In der privaten Krankenversicherung (PKV) sind Hausarzt-Tarife schon seit langem etabliert. Anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erhalten Patienten, die sich in solche Tarife einschreiben, in der Regel spürbare finanzielle Vorteile. Die können darin liegen, dass die Versicherten eine niedrigere Prämie zahlen oder dass Rechnungen für Behandlungen bei Fachärzten in voller Höhe erstattet werden, während nicht in Hausarztverträge eingeschriebene Versicherte einen bestimmten Teil ihrer Facharzt-Rechnungen selbst übernehmen müssen.
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