Klimaneutral oder CO₂-neutral - dieses Etikett klebt immer häufiger auf Produkten und bewirbt sie damit als umweltfreundlich hergestellt. Doch über den tatsächlich anfallenden CO₂-Ausstoß bei der Herstellung sagt das Label manchmal überhaupt nichts. Denn "klimaneutral" steht auch auf Waren, für die der Hersteller lediglich in Klimaschutzprojekte einzahlt.
BGH urteilt gegen die Irreführung von Verbrauchern
Ist ein Produkt nur durch die Finanzierung von Klimaschutzprojekten "klimaneutral", muss ab jetzt auf diesen Umstand hingewiesen werden. Das hat heute der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. Da der Begriff "klimaneutral" mehrdeutig sei, wäre die Werbung sonst irreführend für die Verbraucher.
"Die Irreführung ist auch relevant, weil eine vermeintliche Klimaneutralität für die Kaufentscheidung des Verbrauchers von erheblicher Bedeutung ist", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Koch in der Urteilsverkündung.
Klimaneutral - was heißt das eigentlich?
Nicht nur beim Fliegen oder Autofahren, Heizen oder Stromerzeugen entstehen Klimagase oder klimaaktive Gase, sondern auch bei der Herstellung jedes Produkts fallen CO₂-Emissionen an: durch die zur Produktion nötige Energie, den Transport und anderes. Doch um den Klimawandel zu begrenzen, sollten möglichst gar keine Treibhausgase mehr in der Atmosphäre angereichert werden. Wir sollten nicht mehr Kohlendioxid, Methan, Lachgas oder andere klimaaktive Gase ausstoßen, als wieder kompensiert werden. Die Erde "entsorgt" zum Glück ständig eine ganze Menge CO₂: In den Ozeanen wird beispielsweise viel Kohlendioxid aufgenommen, der Boden speichert es und Pflanzen atmen es buchstäblich weg.
Klimaneutral ist nicht CO₂-frei - Definition
Klimaneutral oder CO₂-neutral bedeutet, das ein Vorgang, ein Land, die Erzeugung eines Produkts oder die Emissions-Bilanz eines Unternehmens den CO₂-Gehalt der Atmosphäre nicht steigert - es wird ebenso viel CO₂ der Atmosphäre entnommen wie hinzugefügt. Wenn beispielsweise ein Baum verbrennt, emittiert er genauso viel CO₂, wie er im Laufe seines Lebens der Atmosphäre entnommen und in Holz umgewandelt hat.
Klimaneutral durch Klimaschutzprojekte
Oder auch: Ich pflanze so viele Bäume, dass diese die gleiche Menge CO₂ aus der Atmosphäre entnehmen, wie ich anderswo ausgestoßen habe. Klingt gut, doch das Konzept hat einige Haken.
"Eigentlich ist das ein Konzept auf der Staatenebene", sagt Carsten Warnecke vom New Climate Institute, einem Thinktank für Klimapolitik. Haben Staaten wie Deutschland Prozesse, die sie nicht emissionsfrei gestalten können, dann können sie das – grob gesagt – auf ihrem Territorium ausgleichen, kompensieren, um bis 2050 die ersehnte Klimaneutralität auf globaler Ebene zu erreichen. Zum Beispiel mit Aufforsten.
Klimaschutz durch Aufforstung klingt schön
Doch schon auf staatlichem Niveau sind Klimaschutzprojekte nicht problemlos. Aufforstung im großen Stile braucht Fläche und steht damit in starker Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion oder zur Erzeugung von Energie aus nachwachsenden Rohstoffen wie Mais oder Raps. Und führt auch dazu, dass die CO₂-Produktion eines Landes manchmal einfach in ein anderes exportiert wird: Während wir bei uns hübsche Wälder pflanzen, werden unsere Lebensmittel zunehmend in fernen Regionen produziert, die teilweise gar nicht so üppig mit Niederschlägen versorgt sind wie unsere eigene.
Außerdem neutralisiert dieser neu gepflanzte Wald nur so lange anderswo anfallenden CO₂-Ausstoß, solange er steht und weiterwächst. Bei einem Waldbrand wird all das Kohlendioxid wieder frei.
Klimaschutz wird leicht zum Greenwashing
Diese Form der CO₂-Kompensation ist inzwischen aber längst für Unternehmen attraktiv geworden: Statt wirklich Treibhausgase einzusparen, stecken sie Geld in Klimaschutzprojekte - ein moderner Ablasshandel, der am Ende mit dem Etikett "klimaneutral" lockt. Doch auf Unternehmens- oder gar Produktebene heruntergerechnet, werden Klimaschutzprojekte schwierig, erläutert Warnecke.
Denn das rechnerische Potenzial zur Klimaneutralität steht nur Staaten zur Verfügung, so Carsten Warnecke. Selbst für die Staaten gibt es kaum genug CO₂-Kompensationsmöglichkeiten. Für Unternehmen wird es also noch schwieriger. Mit anderen Worten: Würden all die Bäume gepflanzt werden, die schon jetzt zur Kompensation versprochen sind, reicht schlicht der Platz nicht aus.
Und überprüfbar sind die Versprechungen zur Klimaneutralität auch nicht, warnt die Biologin Jutta Kill, Expertin für Emissionshandel und ökologische Gerechtigkeit: "Die Emissionen, die freigesetzt wurden, um ein Produkt herzustellen, die sind real. Die enden tatsächlich in der Atmosphäre. Ob die Einsparungen aber auch die Emissionen aus der Atmosphäre rausgehalten haben, ist eben nicht so klar nachweisbar, weil die Berechnungsgrundlage Annahmen sind, was ohne Projekt passiert wäre."
Klimaneutral durch Kompensation - geht das?
Nach Ansicht von Kill ist "klimaneutral" vor allem ein Werbebegriff. Der nicht zuletzt verhindere, dass Unternehmen ihre realen Emissionen transparent darlegen. "Und das bringt weder uns als Gesellschaft noch dem Klima was. Weil Kompensation uns einfach auch vorgaukelt, dass die Situation, in der wir uns in Bezug auf die Klimakrise befinden, weniger dringlich sei, als sie tatsächlich ist."
- Zum Artikel: CO₂-Entnahme aus der Atmosphäre - wie geht das?
CO₂-Reduktion statt Kompensation - darum geht es
Derzeit werden Jahr für Jahr weltweit etwa 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid (oder seine Äquivalente) emittiert. Und die Emissionen nehmen nicht etwa ab, nein, sie nehmen immer noch weiter zu. Kompensation wird sicher nötig sein, doch das eigentliche Ziel für eine wirksame Strategie gegen den fortschreitenden Klimawandel ist es, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken, und zwar erheblich.
Und dazu gehört auch, Verbraucher nicht mehr in die Irre zu führen, die durch ihr Kaufverhalten versuchen zur Klimaneutralität beizutragen.
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