Philipp hat seine letzte Probe hinter sich. Mathe. Es lief ganz gut, findet er. Aber ob's reicht? Von dieser Note hängt ab, auf welche Schule er nach der vierten Klasse gehen darf. Der Zehnjährige aus Michelau im Steigerwald will auf die Realschule. Dazu braucht er einen Notenschnitt von 2,66. Bisher steht er aber auf 3,0. Damit müsste er auf die Mittelschule gehen. Dabei hatte Philipp im vergangenen Schuljahr noch einen Zweier-Schnitt.
Schlechte Noten durch Lernen unter Druck
"In der vierten Klasse haben wir viel Stoff. Ich glaub', manchmal ist mein Kopf da ein bisschen überfordert", erklärt sich Philipp den schlechteren Notendurchschnitt. Viel Stoff, viele Aufgaben, die Transferdenken erfordern – und vor allem: 18 schriftliche Proben. Das ständige Lernen unter Druck habe den Familienalltag bestimmt, sagt Philipps Mutter Lisa Mannichl. Sie hat ihren Job als Mittelschullehrerin an den Nagel gehängt, weil sie nicht länger hinter dem Schulsystem steht. "Ich bin überzeugt, dass wenn der Probendruck in dieser Anzahl nicht so wäre, könnten die Schüler besser und mit mehr Freude lernen." Angst und Druck seien kontraproduktiv.
Fast jede Woche eine Prüfung
Das Bayerische Kultusministerium findet das bayerische Übertrittsverfahren hingegen kindgerecht, habe psychische Belastungssituationen im Blick und fördere die Kinder passgenau, heißt es auf Anfrage. Die Zahl der Proben sei etwa von 22 auf 18 gesenkt worden. Dazu kommen allerdings meist noch mündliche Abfragen. Heißt: bis zum Übertrittszeugnis fast jede Woche eine Prüfung.
Genauso viele Realschüler wie vor zehn Jahren
Mannichl findet: Das Verfahren ist auf Spitzenleistungen ausgelegt. Mit der Prüfungsdichte ließen sich Gymnasiasten gut rausfiltern. Kinder, die gut auswendig lernen können und mit viel Text keine Probleme haben, werden mit dem derzeitigen Übertrittsverfahren gefördert und gefordert. "Den anderen Kindern wird man nicht gerecht, denen, die auf die Real- oder Mittelschule gehen." Knapp ein Drittel der bayerischen Grundschulkinder geht auf die Mittelschule. Genauso viele auf die Realschule. 41 Prozent aufs Gymnasium. Das Verhältnis hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht verändert.
Forderung von Eltern- und Lehrerverbänden: späterer Übertritt
Was aber mit Blick auf die Zahlen des Kultusministeriums auffällt: Etwa jeder sechste Schüler wechselt nach dem Übertritt nochmal die Schulart. Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen und Lehrerverbands (BLLV), hat dafür eine Erklärung: "Der Übertrittszeitpunkt ist zu früh und zu stressig. Die drei Hauptfach-Noten haben zudem keine Aussagekraft. Stress, Angst, Druck verhindert für manche Kinder einen anderen Bildungsweg."
Sie sagt aber auch: Bayerns Schulsystem ist durchlässig. Wer zunächst die Mittelschule besucht, kann später trotzdem das Abitur machen. Darauf weist auch das Kultusministerium hin: "Mittlerweile werden in Bayern rund 50 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen über den beruflichen Bildungsweg erworben."
Zurück bei Familie Mannichl im Steigerwald. Die letzte Matheprobe ist geschrieben. Philipp hofft jetzt, dass er in der Probe eine zwei geschrieben hat. Dann schafft er den Schnitt für die Realschule.
Im Video: Warum es Kritik am "Grundschul-Abitur" gibt
Der Übertritt von der Grund- auf eine weiterführende Schule gilt als "Grundschul-Abitur".
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