Christian W. (mit schwarzer Cap) als Anheizer bei einer Neonazi-Demo in Fürth 2002
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Erster NSU-Mord: Welche Rolle spielte Ex-Neonazi Christian W.?

Erster NSU-Mord: Welche Rolle spielte Ex-Neonazi Christian W.?

Vor 25 Jahren wurde der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg erschossen – er war das erste Opfer der NSU-Mordserie von Neonazi-Terroristen. Der Fall bleibt bis heute rätselhaft. Doch fällt bei Recherchen ein Name immer wieder.

Über dieses Thema berichtet: Stadt Land Leute am .

Am 9. September 2000 schossen Terroristen der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) mehrfach auf den türkischstämmigen Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg. Zwei Tage später erlag er seinen Verletzungen. Er war das erste Mordopfer des NSU.

Zu Beginn ging die Polizei davon aus, dass der Mord im Zusammenhang mit dem Drogenmilieu stand – und ermittelte im engsten Familienumfeld des Opfers. Erst mit der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 konnte die Verbindung zur Terrorzelle aufgeklärt werden. Doch auch heute, 25 Jahre nach der Tat, bleiben viele Fragen unbeantwortet, auch zu möglichen Mitwissern und Unterstützern des NSU-Kerntrios, bestehend aus Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Sie konnten sich auf zahlreiche Unterstützer aus der Neonazi-Szene stützen.

Ein Name taucht bei Recherchen immer wieder auf

Exklusive Nachforschungen des investigativen Rechercheteams von Bayerischem Rundfunk und Nürnberger Nachrichten zum Şimşek-Mord zeigen, dass ein Name immer wieder auftaucht: Christian W. Der heute 46-Jährige war in den 1990er und 2000er Jahren in der fränkischen Neonaziszene aktiv und laut eigenen Angaben "Kameradschaftsführer" bei der später verbotenen "Fränkischen Aktionsfront" sowie stellvertretender Kreisvorsitzender der Nürnberger NPD. Schon als Jugendlicher geriet er mit dem Gesetz in Konflikt. So wurde bei einer Hausdurchsuchung eine scharfe Patrone gefunden, zu Hitlers Geburtstag grölte er Nazi-Parolen.

W. war vor dem Mord an Şimşeks Blumenstand

Im Zusammenhang mit dem Mord an Enver Şimşek wurde Christian W. 2012, also kurz nachdem sich der NSU selbst enttarnt hat, vom Bundeskriminalamt vernommen. Der Grund: Er war in den 2000er Jahren mit Mandy S. liiert, die als erste Unterstützerin des späteren NSU-Kerntrios gilt. Bei dieser Vernehmung gab W. an, er habe den Blumenstand von Enver Şimşek zwischen 1998 und 2000 besucht, also möglicherweise kurz vor dem Mord.

Nach Recherchen: Ausschussvorsitzender zeigt Christian W. an

Diese Angabe war auch 2023 Thema im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag. Dieser gründete sich wegen vieler ungeklärter Fragen im NSU-Komplex. Christian W., der als Zeuge geladen war, beteuerte, dass seine Aussage beim BKA "definitiv falsch" sei. Er habe bei der Vernehmung "unter Anspannung" gestanden und erklärte, er sei beim Besuch des Blumenstands "zehn oder elf Jahre alt" gewesen.

Doch BR/NN-Recherchen zeigen, dass diese Altersangabe kaum stimmen kann: W., der 1979 geboren wurde, hätte demnach 1989 oder 1990 den Şimşek-Stand besuchen müssen. Aber: Der Blumenverkauf in Nürnberg wurde erst 1998 eingerichtet, wie Seda Başay-Yıldız, die Anwältin der Familie Şimşek gegenüber BR und NN versichert. Diese Ungereimtheit hat der Untersuchungsausschuss nicht aufgeklärt. Konfrontiert mit diesen Recherchen reagierte der frühere Ausschussvorsitzende Toni Schuberl (Grüne) nun, im September 2025, mit einer Strafanzeige gegen Christian W. wegen Falschaussage.

Ungereimtheiten und widersprüchliche Aussagen

Auch weitere Ungereimtheiten sind auffällig. So feierte der spätere NSU-Terrorist Uwe Mundlos 1995 zusammen mit rund 120 anderen Neonazis in der Nürnberger Gaststätte "Tiroler Höhe" bei einer Party. Laut Ermittlungen der Polizei ist auch Christian W. dabei gewesen. Wegen "strafbaren Handlungen" kam es laut Akten zu einem "größeren Polizeieinsatz", bei dem auch W. in Gewahrsam genommen wurde. Er selbst verneinte jedoch im Untersuchungsausschuss, Mundlos zu kennen.

Dass das spätere NSU-Kerntrio bereits in den 90er Jahren oft in Nürnberg zu Besuch und bekannt war in der fränkischen Neonazi-Szene, berichtete ein Ex-Neonazi schon 2018 dem Rechercheteam. Demnach feierten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe nicht nur im damaligen Szene-Treffpunkt "Tiroler Höhe", sondern stiegen auch regelmäßig in einer Neonazi-Wohnung ab. "Das NSU-Trio kannte in Nürnberg jeder Kamerad", sagte der ehemalige Rechtsextremist dem Rechercheteam. Auch Christian W. war laut eigenen Aussagen im Untersuchungsausschuss ein paar Mal in dieser Wohnung. Auf das spätere NSU-Trio will er dabei aber nicht gestoßen sein.

Aussteiger packt über W. aus – dieser streitet ab

In einer BKA-Vernehmung von 2011 berichtete Mandy S., seine frühere Freundin, dass W. ihr eine Bombenbauanleitung übergeben habe – eine Aussage, die er bestreitet. Sie berichtete zudem, W. sei bei der militanten Gruppe "Combat 18" (C18) "dabei" gewesen. Im Untersuchungsausschuss erzählte sie, W. habe ein T-Shirt von C18 getragen. Das sagte auch ein weiterer Szene-Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss aus. Ein ehemaliger Neonazi-Anführer, der nach BR/NN-Recherchen schon vor Jahrzehnten beim Verfassungsschutz umfassend auspackte, gab zudem an, Christian W. sei Mitglied von "Combat 18" gewesen. W. dementierte Verbindungen zu dieser Gruppe in der Vergangenheit. Schon vor Jahren hat das BR/NN-Rechercheteam Christian W. mit diesen Widersprüchen konfrontiert – dabei stritt er diese ab. Auf eine im August gestellte neue Anfrage reagierte W. nicht.

Offene Fragen – und mutmaßlich falsche Antworten

Weitere mutmaßliche Falschaussagen von Neonazis blieben nicht immer folgenlos. So wurde erst im März dieses Jahres ein früherer Neonazi wegen einer angezeigt.

Der Fall Enver Şimşek bleibt trotz intensiver Ermittlungen der Behörden teils ungelöst. Insbesondere die Fragen von Hinterbliebenen, warum ausgerechnet ihre Angehörigen zur Zielscheibe wurden, sind nach wie vor unbeantwortet.

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