Ein kleiner Junge, mitten im Winter, in dünner Regenjacke, mitten zwischen zwei Orten, ganz allein – "Ich habe gespürt, dass da was nicht stimmt", so hat es die Zeugin geschildert, die den Bub in sichere Obhut nahm, nachdem er von seinen Eltern weggelaufen war. Sie war mit ihrem Auto auf einer Straße im Landkreis Aichach-Friedberg unterwegs an diesem Tag im vergangenen Januar und hat, wie sich herausstellen sollte, instinktiv richtig reagiert. Sie stoppte, redete mit dem verängstigten Kind und brachte es zu einer Frau im nächsten Ort, die der Bub kannte.
Dabei handelt es sich um die Mutter der Kindergartenfreundin des Jungen. Sie schildert im Zeugenstand eindrucksvoll eine Stunde lang, wie ihr der Kleine sein Herz ausgeschüttet habe. Mehrere Monate hatte es keinen Kontakt mehr gegeben, weil der Bub nicht mehr in den Kindergarten gekommen war. Und wie er sie dann sofort gebeten habe: "Bitte mach schnell die Tür zu, der Papa wenn mich erwischt, der bringt mich um". Das sei sein erster Satz gewesen, so die Frau vor Gericht. Sie habe die Striemen im Gesicht des Kindes gesehen und daraufhin sofort die Polizei informiert.
Verteidiger wollen neue Zeugen und Gutachten
In einer Videovernehmung, die am ersten Prozesstag Anfang dieser Woche im Gerichtssaal gezeigt wurde, schilderte der Bub vieles genau so, wie er es bereits der Polizei und Zeugen erzählt hatte. Den Verteidigern reicht das aber nicht aus. Sie forderten gestern am zweiten Prozesstag weitere Zeugenvernehmungen und ein psychologisches Gutachten. Das soll klären, ob der Junge alles genau so erlebt hat. Oder ob auch nachträgliche Verarbeitung, Ausschmückung oder Erweiterung eine Rolle spielen könnten. Auch wenn grundsätzlich davon auszugehen sein, dass der Junge Misshandlungen erlebt habe, so Verteidiger Felix Egner. Er weist dabei auf Schilderungen des Kindes hin, die seiner Einschätzung nach nicht zusammenpassen. Einmal etwa sage der Bub, sein Vater habe ihn immer mit dem Besen auf den Kopf geschlagen, immer nur auf den Kopf. Später spreche er dann davon, dass er am ganzen Körper damit geschlagen worden sei. "Da muss man doch feststellen, was genau ist passiert", fordert Egner.
Kind berichtet von Hunger, Durst, Schlägen und Fesseln
Zwei Laternenleuchtstäbe habe er dabei gehabt, nur eine dünne Jacke an, keine Socken in den Schuhen und sein Kuscheltier, den Vogel "Piepmatz" unterm Arm, schilderte die Mutter der Kindergartenfreundin des Jungen weiter den Moment im Januar, als der Junge von Zuhause weglief. Sie habe auch Hämatome bemerkt, als er sich umzog. Der Fünfjährige habe erzählt, dass er mit Kabelbindern gefesselt worden sei. Er sei ausgekühlt gewesen, sehr hungrig und durstig, habe den ganzen Tag zuvor nichts bekommen, sondern habe den anderen "beim Leberkässemmel-Essen zuschauen müssen" , so der Bub.
Ungepflegt und ungeliebt?
Sehr trockene Haut habe der Junge gehabt, sei ungeduscht und nicht gepflegt gewesen, sagt die Zeugin. Ganz anders als früher, als die leibliche Mutter noch für ihn gesorgt hatte, die ein Jahr zuvor gestorben war, berichtete die Zeugin. Sie habe ihn gefragt, was denn mit ihm los sei. Da habe der Bub von Schlägen berichtet und vom Fesseln mit Kabelbindern. Beide Eltern hätten ihn eingesperrt und gefesselt. Noch im Liegen habe der Vater sogar auf ihn eingetreten, wenn er mit gefesselten Händen hingefallen sein. Zum Beißring, den er bei sich trug, sei ihm gesagt worden, da solle er draufbeißen, dann habe er nicht so viel Hunger. Auch habe er berichtet, dass er Windeln tragen musste, wenn er eingesperrt war.
"Ich glaube ihm"
Die Zeugin sagt vor Gericht, sie glaube dem Kind, "weil er immer ein ehrlicher Junge war, er hat uns nie angelogen". Und auch aggressiv sei er "nie gewesen". Das aber hat sein Vater in seiner Aussage vor Gericht so geschildert. Immer abends, vor dem Schlafengehen, sei der Junge ausgeflippt, und "da hat er dann halt mal eine gefangen", so der Angeklagte. Er hatte bei Prozessbeginn über seinen Anwalt die Vorwürfe weitgehend eingeräumt. Ihm sei alles zu viel geworden, die Familie und der Stress im Job, so der Mann.
Vater habe sich verändert
Eine Veränderung hat auch die Zeugin bemerkt, zu der sich der Bub geflüchtet hatte. Der Vater sei nach dem plötzlichen Tod der leiblichen Mutter des Buben zunächst "immer da gewesen für seinen Sohn". Dann aber, als bereits wenige Monate später eine neue Frau ins Leben getreten sei, habe sich das verändert. Das Verhalten des Vaters, mit dem sie und ihr Mann befreundet waren, habe sich mit der neuen Frau stark verändert.
Prozess wird fortgesetzt
Die Staatsanwältin hat am zweiten Prozesstag den Vorstoß der Verteidigung nach weiteren Zeugenvernehmungen und einem psychologisches Gutachten zurückgewiesen. Das Amtsgericht besäße ausreichend Sachkunde, um die Aussagen des Kindes auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. Auch die Nebenklage will kein weiteres Gutachten und verweist darauf, dass der Bub konstant geblieben sei in seinen Schilderungen. Das Gericht jedoch will den Antrag der Verteidigung prüfen und unterbricht die Verhandlung. Nun wird das Verfahren kommenden Montag fortgesetzt. Weitere Termine sind angesetzt für Mittwoch und Freitag.
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