"Via con me!" – Komm, wir machen uns auf den Weg. Mit Paolo Contes Aufbruchslied beginnt der Festakt "70 Jahre Anwerbeabkommen". Für viele bedeutete dieser Weg einen Neuanfang.
Auch für Abdurrahman Gümrükcü. Am 6. April 1970 steigt er am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs aus dem Zug. In der Hand ein schlichter brauner Koffer, den er bis heute besitzt und stolz zur Jubiläumsfeier mitgebracht hat. Damals transportierte er darin eine Hose, zwei Hemden und ein deutsch-türkisches Wörterbuch. "Ich habe kein Wort Deutsch gesprochen", erinnert er sich. "Drei Tage habe ich nur geweint, weil ich nichts verstanden habe." Doch er blieb, hielt durch – und nach drei Monaten brauchte er das Wörterbuch nicht mehr. "Im Selbststudium habe ich mir Deutsch beigebracht."
Von Isolation zur Gemeinschaft: Die ersten Schritte der Gastarbeiter
Sprachbarrieren, harte Arbeit, beengte Wohnverhältnisse, erniedrigende medizinische Untersuchungen, Heimweh und Ausgrenzung – so sah die Realität für viele der damals angeworbenen Arbeitskräfte aus.
Auch die Großeltern von Cagla Orak haben diese Erfahrungen gemacht. Ihr Leben war zunächst geprägt von Isolation und dem Gefühl, in der neuen Umgebung nicht wirklich willkommen zu sein. "Es war eben eine andere Kultur, eine andere Mentalität", sagt ihre Enkelin. Erst als ein Pfarrer die Familie besuchte, änderte sich etwas. "Er hat in der Gemeinde erzählt, die Familie Orak ist gar nicht so schlimm. Erst dann kamen einzelne Gemeindemitglieder und haben auch mal Hallo gesagt." Ein vorsichtiger Anfang von Gemeinschaft entstand.
Integration als dauerhafte Aufgabe in Bayern
Aus den Erfahrungen – und auch aus den Fehlern – der damaligen Zeit habe man gelernt, sagt der bayerische Innen- und Integrationsminister Joachim Herrmann (CSU). "Wir reden heute nicht mehr von Gastarbeitern." Früher habe man "fälschlicherweise" geglaubt, die Menschen würden nach drei oder vier Jahren in ihre Heimat zurückkehren. Doch das sei weder damals noch heute "sinnvoll" oder "erwünscht". Bayern sei weiterhin auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen.
Heute gebe es Integrationskurse, Sprachförderung, Beauftragte und Räte – viele Instrumente also, die Zugewanderten das Ankommen erleichtern sollen. "Wir wollen, dass sich Menschen gut integrieren in unserem Land und die Sprache lernen und kräftig mit anpacken." Integration, so betont Herrmann, sei kein Kurzstreckenlauf, sondern eine dauerhafte Aufgabe.
Herrmann: "Selbstverständlicher Teil Deutschlands"
Sieben Jahrzehnte Anwerbeabkommen – aus Aufbrüchen ins Ungewisse sind neue Heimaten entstanden. "Heute gehören all diejenigen, die geblieben sind – ihre Kinder, ihre Enkel und inzwischen oft auch ihre Urenkel – zum selbstverständlichen Teil Deutschland", sagt Herrmann.
Dazu zählt auch die Familie des Sizilianers Carmino Macaluso. Er kann sein Glück kaum fassen: Wie so viele dachte er einst, nur für ein paar Jahre zu bleiben. Doch in Bayern hat er sich ein dauerhaftes Leben und eine zweite Heimat mit Familie aufgebaut. "Und heute", sagt er voller Stolz, mit Tränen in den Augen, "heute werde ich Opa". Ausgerechnet am Tag der Jubiläumsfeier.
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