Dass alle seine Sachen ihren festen Platz haben in seiner eigenen Wohnung, daran musste sich Bertram Gehringer erstmal gewöhnen. Der 46-Jährige war jahrelang obdachlos. In Bankfilialen, unter Brücken, auf Lüftungsschächten hat er nachts geschlafen, sein Hab und Gut immer bei sich. "Wo penn' ich heute Abend? Wo krieg' ich was zu essen her?", seien die einzigen Pläne gewesen, zu denen er als Obdachloser fähig war. Heute lebt er in einer Mietwohnung im Würzburger Stadtteil Heuchelhof.
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Zuerst die eigene Wohnung, dann eine Perspektive
Die eigenen vier Wände, ein Dach über dem Kopf, das habe ihm das Leben gerettet, sagt Gehringer. Ohne dieses echte Zuhause wisse er nicht, wo er jetzt wäre. Die kleine Einzimmerwohnung hat er mithilfe von "Noah" gefunden, ein sogenanntes "Housing First"-Projekt. Träger ist die Christophorus-Gesellschaft in Würzburg.
Die Idee: Obdachlosen Menschen zuerst eine Wohnung geben, damit sie im Anschluss ihr Leben regeln können. Wichtig ist dabei, dass die Menschen nicht – wie bei anderen Angeboten – ihre sogenannte "Wohnfähigkeit" belegen müssen. Ein Vertrauensvorschuss.
Housing First-Projekt sucht Vermieter
Aber die vergangenen Jahre zeigen: Es lohnt sich. Jan Bläsing, Sozialpädagoge und Projektleiter von "Noah", betont: 90 Prozent der obdachlosen Menschen, die sie in Wohnraum vermittelt haben, sind weg von der Straße und "wohnstabil".
Die Unterstützung sei enorm wichtig: "Diese Menschen sind stigmatisiert und haben alleine keine Chance auf dem angespannten Wohnungsmarkt." Die Sorge der Vermieter, ehemals obdachlose Menschen seien schwierige Mieter, kann er nehmen: Das Housing First-Projekt ist jederzeit ansprechbar. Aktuell betreut "Noah" 13 Menschen in elf Wohnungen in Würzburg.
Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland steigt
Bayernweit gibt es nur drei solcher Housing First-Projekte. Neben Würzburg auch in Nürnberg und Kronach. Viele weiße Flecken, mahnt Bläsing. Zwar werden es deutschlandweit immer mehr – mittlerweile gibt es fast 50 solcher Projekte – aber eben auch immer mehr Obdachlose. Der aktuelle Wohnungslosenbericht der Bundesregierung spricht von mehr als 500.000 Menschen, die wohnungslos sind. Allein in Bayern sind es 53.000.
Obdachlosigkeit kostet den Staat viel Geld
"Es ist ein sozialpolitischer Skandal, dass im Koalitionsvertrag nur ein Satz zu Obdachlosigkeit steht", kritisiert Dr. Kai Hauprich, Vorsitzender des Bundesverbands Housing First, bei einer Fachtagung in Würzburg. "Wir können uns Obdachlosigkeit als Gesellschaft eigentlich überhaupt nicht leisten."
Chronische Obdachlosigkeit koste den Staat so viel mehr Geld als wenn man die betroffenen Menschen in Wohnraum vermitteln würde. Krankenhausaufenthalte, Entzug, Unterbringung in einer Notunterkunft, Aufenthalt im Gefängnis – das alles sei viel teurer als das Personal für noch mehr Housing First-Projekte. Daten, die über Jahrzehnte untersucht und belegt sind. Das Konzept stammt aus den 1990er Jahren in New York.
Daten zeigen, dass Housing First wirkt
Vorreiter in Europa ist Finnland. Hier ist die Zahl der sogenannten chronisch, also langfristig Obdachlosen um 70 Prozent gesunken seit 2008. Dort hätten alle Beteiligten über parteipolitische Grenzen hinweg die Entscheidung für den Ausbau von Housing First getroffen, erklärt Bundesverbandsvorsitzender Kai Hauprich.
Grafik: 70 Prozent weniger Obdachlose in Finnland durch Housing First-Projekte
Seit Einführung von Housing First-Projekten landesweit gibt es 70 Prozent weniger Obdachlose in Finnland.
Die Bayerische Staatsregierung hat das Thema auf dem Schirm. Nach einem Landtagsbeschluss vom Dezember 2021 hat sie eine Studie zur Umsetzung von Housing First in Bayern in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: fünf bis zehn Prozent aller erwachsenen Wohnungslosen sind potenzielle Klienten. Das seien etwa 2.200 Menschen.
Außerdem gibt es seit 2018 eine Förderung von Modellprojekten "Hilfe bei Obdachlosigkeit". 100 Projekte wurden bereits bewilligt – und damit alle, die beantragt wurden. Eine Ministeriumsmitarbeiterin betont: Pro Jahr stehen bis zu vier Millionen Euro bereit.
Ehemaliger Obdachloser: "Gefühl von Sicherheit"
Das Würzburger Projekt ist mit EU-Fördergeldern finanziert – aber nur bis Herbst 2026. Dann hofft man hier auf eine Übernahme durch die Kommune. Denn Menschen wie Bertram Gehringer zeigen, wie wirksam das Konzept ist: "Es ist mein Heim, ich mache die Tür zu und dann ist und bleibt sie auch zu. Ich kann Besuch empfangen, zum Beispiel mein Enkelkind. Das ist das Allerschönste. Und das Gefühl von Sicherheit", erzählt der 46-Jährige. Er glaubt, das Konzept könne der Anfang einer Lösung sein. Eine Chance, die er noch vielen anderen Menschen wünscht.
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