"Ich gehe in kein Heim mehr", sagt der 92-Jährige Richard Sucker. Er lebt allein in einer Zweizimmerwohnung in Nürnberg und versorgt sich weitestgehend selbst. Denn in Heimen hat er als Kind und Jugendlicher Gewalt, Demütigungen und Erniedrigungen erlebt. Der 92-Jährige seufzt, als er daran denkt: "Das war schlimm". Für ihn ist die Erinnerung daran eine offene Wunde.
Schläge mit dem Ochsenziemer
Sucker erinnert sich noch an seine Zeit in einem Heim im oberfränkischen Naila Ende der 1940er-Jahre. Dort musste er als Kind auf den Feldern arbeiten, bei Hitze und Kälte, manchmal auch ohne Schuhe. Außerdem gab es vom Erzieher Prügel mit einem Ochsenziemer. Das ist ein bis zu einem Meter langer, getrockneter Stierpenis, den Aufseher in Konzentrationslagern als Schlagwaffe gegen Menschen eingesetzt haben. Richard Sucker hat Ende 1940er-Jahre im Kinderheim im Naila Schläge damit bekommen. In seiner Abstellkammer hat der 92-Jährige auch ein Exemplar.
"Mit so einem Teil wurden unschuldige Kinder geschlagen, weil sie nachts ins Bett gepinkelt haben oder bei der Arbeit zu langsam waren. Bei jeder Kleinigkeit wurden wir verprügelt und auf den Stuhl gelegt: Die Hosen runtergezogen und dann den Kopf zwischen die Beine geklemmt. Da hat man als Kind keine Chance."
Mit so einem Ochsenziemer wurde Richard Sucker als Kind verprügelt
Wenn Richard Sucker über seine Kindheit erzählt, gibt es keine Leichtigkeit, keine heiteren Erinnerungen. Dabei hat er es als Erwachsener geschafft, sich aus eigener Kraft weiterzubilden. Er hat einen Karate-Verein gegründet und als Ingenieur gearbeitet. Doch weil die Erinnerungen wieder hochkamen, er schlecht schlief und Konzentrationsschwierigkeiten bekam, musste er früher in Rente gehen – im Alter von 58 Jahren. Das wirkt sich auf die Rente aus, die er jetzt bekommt.
Runder Tisch Heimerziehung in Berlin
Von 2009 bis 2011 gab es in Berlin einen Runden Tisch Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren. Daran waren Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik sowie der Kirchen und deren Wohlfahrtsverbände sowie ehemalige Heimkinder wie Richard Sucker beteiligt. Christian Schrapper, Professor der Pädagogik der Uni Koblenz, nahm als Vertreter der Wissenschaft an den Anhörungen und Verhandlungen teil. Das Ergebnis war der Fonds Heimerziehung, aus dem Betroffene Einmalzahlungen erhalten konnten.
Zahlung war "entwürdigend"
Christian Schrapper sieht den Fonds als kleinstmöglichen Kompromiss. Da die Zahlungen sachgebunden waren, bezeichnet er ihn für die Betroffenen als "entwürdigend". Denn die ehemaligen Heimkinder mussten nachweisen, dass sie das Geld für Anschaffungen wie eine Küche oder Waschmaschine ausgaben. Auch Richard Sucker hat sich nach eigenen Angaben Küchenmöbel dafür gekauft. Aber eine monatliche Zusatzrente wie es sie in Österreich gibt, hält er für sinnvoller als Ausgleich für das erlittene Leid und die Arbeit, die er auf den Feldern leisten musste.
Anliegen der ehemaligen Heimkinder soll nicht vergessen werden
Der Fokus in der öffentlichen Diskussion liegt aktuell auf sexualisierter Gewalt, in Einrichtungen wie Kinder- und Erziehungsheimen. Im Juli ist das Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kraft getreten. Das verstetigt die Arbeit der vorher befristeten Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindsmissbrauchs. In dieser Aufarbeitungskommission setzt sich Sozialpsychologe Heiner Keupp besonders für die ehemaligen Heimkinder ein. Es handele sich um eine Gruppe, die eigentlich in der Obhut des Staates war und schwer vernachlässigt worden sei. Das müsse man sich immer wieder klar machen.
Vorbild: Österreich zahlt Heimopferrente
Österreich gilt dabei als Vorbild. Im Nachbarland gab es 2016 einen Staatsakt mit dem Titel “Geste der Verantwortung“. Mit und für die Opfer der gewalttätigen Erziehung in Heimen. Österreich zahlt Betroffenen eine Heimopferrente von mehr als 420 Euro im Monat. Der emeritierte Münchner Professor Heiner Keupp wünscht sich das auch für die Betroffenen in Deutschland. In Deutschland geht die Kommission von schätzungsweise 800.000 Betroffenen aus. Für den 92-jährigen Richard Sucker ist allerdings Zeit ein wichtiger Faktor. "Weil: Wir leben ja alle nimmer lang".
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