Arne Schetters schaut nervös auf die Uhr: Es ist die vorletzte Runde, und wenige Minuten vor Spielende sind er und sein Gegner Ben Brun gleichauf. "Ich brauche jetzt den Boss", drängt der zehnjährige Pokémon-Sammelkarten-Spieler aus Türkheim im Unterallgäu. Er und sein Gegner sitzen sich an einem weißen Tisch gegenüber, vor ihnen bunte Karten mit Monstern, Blitzen, Zahlen.
Fast jeden Tag Pokémon: Bleibt da noch Zeit für Schule?
Bevor er Mitte August als einer von wenigen Deutschland bei der Weltmeisterschaft im kalifornischen Anaheim vertritt, nimmt der beste Junior des Landes jede Gelegenheit wahr, um zu trainieren. Er spielt fast jeden Tag gegen Freunde, hat Treffen mit Coaches und nimmt an den Wochenenden an lokalen und internationalen Turnieren teil, etwa in Türkheim, Neu-Ulm, Bologna oder Birmingham.
Beim Pokémon-Turnier in der Volkshochschule (VHS) Türkheim will Arne Punkte für sein internationales Ranking sammeln und Decks für die WM ausprobieren: strategische Sets aus je 60 Karten, mit denen er antreten kann.
Bei so viel Training auch noch die vierte Klasse zu meistern, das erfordert Flexibilität von allen Beteiligten, weiß Arnes Klassenlehrerin Julia Herb. So hat die Grundschule Türkheim dem Schüler für die WM in Kalifornien Sonderurlaub gegeben. Arne verpasse außerdem manchmal Unterrichtsstoff, wenn er früher losmüsse zu einem Turnier. "Ich glaube, das ist für Arne und seine Familie eine andere Art der Organisation", erklärt Herb nach einer Mathestunde. Da komme es auch mal vor, dass Arne im Flugzeug lernen müsse.
Pokémon-Verbot an Arnes Schule
Seine Mitschüler hörten ihm gespannt zu, wenn er in der Klasse von seinen Abenteuern bei Turnieren erzähle. "Sie freuen sich für mich, das macht mich stolz und glücklich", sagt Arne. Nur Spielen darf an seiner Schule niemand. "Früher haben die Kinder in der Pause und vor dem Unterricht gespielt. Dann ging es aber los mit Eifersüchteleien, und die Kinder haben sich teilweise gegenseitig die Karten geklaut", erinnert sich Herb. An der Grundschule Türkheim sind Pokémon-Karten deshalb Tabu.
Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), kann diese Entscheidung nachvollziehen: "Ich habe erlebt, wie Schüler nur noch an Karten hängen im Unterricht und in den Pausen." Wenn sie zudem abgelenkt würden und es eine Frage des Geldes sei, wer mitspielen kann, sei das ein "No-Go". Das betreffe je nach Schule allerdings nicht speziell Pokémon-Karten, sondern Sammelkarten insgesamt oder etwa auch Handys. Einen Überblick, was an welchen bayerischen Schulen verboten ist, habe der BLLV nicht: "Die Schulen stellen eigenverantwortlich Regeln auf für das, was an ihnen Thema ist."
Strategisches Denken durch Pokémon-Spielen
Auf den Fall von Arne Schetters schaut Fleischmann aber positiv: "Wenn jemand wo ganz vorne ist und positives Feedback bekommt, beflügelt ihn das." Zumal seine Klassenlehrerin Herb laut eigener Aussage merkt, wie Arne im Unterricht von seinem Pokémon-Training profitiere: "In Mathe zeigt sich das schon: Sein logisches und strategisches Denken und mentales Sortieren und Organisieren helfen Arne, Aufgaben zu durchschauen und schnell zu lösen."
Arnes Vater Erik hat zusammen mit anderen Eltern sogar einen Spielverein gegründet. Auch er ist überzeugt, dass das Pokémon-Spielen den Kindern guttut: "Wenn sie hier anfangen, müssen sie erstmal lernen, ruhig zu sitzen und konzentriert zu bleiben." Mit der Zeit beobachte Erik, wie die Kinder zunehmend auf ihre Mitspieler achteten und ihre Strategien anpassten.
Dritter Platz für Arne
Wie komplex das Spiel ist, zeigt sich auf dem Pokémon-Turnier in der Türkheimer VHS. Resistenzen und Schwächen, Pokémon-Karten, Trainerkarten: Der Laie kann dem Spiel kaum folgen. Auch, wenn Arne schließlich den ersehnten Boss zieht: Für sich entscheiden kann er die Runde nicht, und gegen seinen letzten Gegner Matti Hillebrand holt er nur ein Unentschieden raus.
Deutschlands bester Junior wird an diesem Samstagnachmittag Dritter. Seine Enttäuschung hält sich dennoch in Grenzen: "Jetzt kenne ich die Decks besser, gegen die ich spiele." Gutes Training für Anaheim.
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