Kaum war der Name Frauke Brosius-Gersdorf als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht öffentlich, stand nicht ihre juristische Kompetenz im Fokus – sondern ihre Haltung zu Abtreibungen. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch spricht von einer "Schmutzkampagne".
Der Politik-Thinktank Polisphere zeichnet nach, wie rechte Netzwerke in Social-Media-Posts gezielt Lügen über die Juristin verbreiteten, dabei besonders den Aspekt der Abtreibung zum Thema machten und Druck auf die Union ausübten. Im Bundestag etwa behauptete die AfD-Politikerin Beatrix von Storch, Brosius-Gersdorf sei für eine "straffreie Abtreibung bis zum 9. Monat". Nichts dergleichen hat die Juristin aber je gesagt.
"Hier fand eine krasse Emotionalisierung statt", so die Publizistin Susanne Kaiser. "Mit den Fakten hat das überhaupt nichts zu tun." Brosius-Gersdorf selbst bezeichnete die Vorwürfe als "diffamierend und realitätsfern". Die Vorwürfe entbehren "jeder Grundlage", so die Juristin.
Die Juristin von der Universität Potsdam sollte in den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden, in dem nicht über Abtreibungsfragen entschieden wird. Er ist allerdings für Parteiverbotsverfahren zuständig.
Ampel setzte Expertenkommission ein
Tatsächlich vertritt Brosius-Gersdorf eine sachlich-differenzierte Haltung in der Abtreibungsfrage. Zum Verhängnis wurde ihr ein Satz zur Menschenwürde im Grundgesetz, der aus dem Kontext gerissen und falsch interpretiert wurde. Die Juristin hatte bei einer Expertenanhörung im Bundestag argumentiert, dass es "gute Gründe" dafür gebe, dass "die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt".
Aus diesem Satz abzuleiten, sie wäre für eine Legalisierung und Straffreiheit der Abtreibung bis zur Geburt, sei unzutreffend und "stellt eine Verunglimpfung dar", so Brosius-Gersdorf in einer persönlichen Erklärung. Sie stellt darin klar, dass es ihr darum ging, ein verfassungsrechtliches Dilemma aufzuzeigen: "Wenn man dem ungeborenen Leben ab Nidation [Anm. d. R.: ab Einnistung der Eizelle] die Menschenwürdegarantie zuerkennt wie dem Mensch nach Geburt (...) wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig" - auch nicht bei medizinischer Indikation.
Aus ihren Überlegungen folge aber kein Aufgeben des Lebensschutzes: "Selbst wenn die Menschenwürde erst für den Menschen ab Geburt gelten sollte, wäre das ungeborene Leben nicht schutzlos. Ihm steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu, wofür ich stets eingetreten bin." Ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen würden sich dahingehend auch "nicht missverstehen lassen", das von ihr aufgezeigte "verfassungsdogmatische Dilemma wird verkürzt wiedergegeben."
Die Expertenkommission, in der sie Mitglied war, wurde 2023/2024 von der Ampel-Regierung eingesetzt, um eine Entkriminalisierung von Abtreibungen zu prüfen. Zur Erinnerung: Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland laut §218 StGB eine Straftat. Sie werden aber laut §218 a nicht bestraft, wenn zuvor eine Beratung stattfindet, drei Tage Bedenkzeit vergehen und der Abbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen erfolgt.
Die aktuelle deutsche Regelung widerspreche allerdings Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO, so Prof. Liane Wörner, Strafrechtsprofessorin und ebenfalls Mitglied der Expertenkommission. Im BR-Podcast "Die Entscheidung" erklärt sie, dass "wir Anwälte für die betroffenen Schwangeren genauso wie für das ungeborene Leben brauchen."
Im Video: Richterwahl - Kandidatin Brosius-Gersdorf wehrt sich
Richterwahl: Kandidatin Brosius-Gersdorf wehrt sich
Legalisierung von Abtreibungen: ja und nein
Brosius-Gersdorf und ihre Kollegen standen vor dem Dilemma, das Recht des ungeborenen Lebens und das Recht der Schwangeren gegeneinander abzuwägen. In einem über 400-seitigen Gutachten entwickelte die Kommission ein Modell, das die Komplexität der Situation über die Schwangerschaft hinweg abbildet. In der Sendung "Markus Lanz" erklärte die Juristin es so: "Dahinter steht ein hochsensibler Güterkonflikt. Für die Auflösung dieses Konflikts war für mich entscheidend, dass die Grundrechte des Embryos und die Grundrechte der Frau nicht in allen Phasen der Schwangerschaft gleich zu gewichten war."
Die Expertinnen kommen in dem Gutachten zu dem Schluss, dass der Lebensschutz des Embryos in der Frühphase der Schwangerschaft gegenüber der Menschenwürde der Schwangeren zurücktreten müsse. Abtreibungen innerhalb der ersten zwölf Wochen sollten deshalb erlaubt sein und legalisiert werden.
Brosius-Gersdorf geht in Ihrer Stellungnahme zum rot-grünen Gesetzentwurf im Februar im Bundestag noch weiter: Für sie genieße das "Verlangen der Frau nach einer Beendigung der Schwangerschaft starken grundrechtlichen Schutz. Der Frau steht in dieser Schwangerschaftsphase ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu." Das erzürnt Abtreibungsgegner.
Das Gutachten, an dem Brosius-Gersdorf beteiligt war, sagt aber auch explizit: In der Spätphase der Schwangerschaft wird dem Lebensrecht des Embryos ein höheres Gewicht als dem Grundrecht der Schwangeren beigemessen. Ein Schwangerschaftsabbruch in der Spätphase – also eine Abtreibung kurz vor Geburt – sollte grundsätzlich verboten bleiben.
Ärztetag mit gleicher Position
Diese Regelung entspräche dem europäischen Standard: In Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Schweden oder Spanien sind frühe Abbrüche legal. Auch in Deutschland findet die Mehrheit in Meinungsumfragen, dass Abtreibungen in den ersten 12 Wochen legal sein sollten.
Der Rechtwissenschaftler Maximilian Pichl schreibt auf der Plattform Bluesky, Brosius-Gersdorf sei eine "sehr gute Juristin", aber "weit entfernt vom linken Lager der Jurist*innen in Deutschland". Der Verein Doctos for Choice verweist darauf, dass sich auch der Deutsche Ärztetag 2025 "mehrheitlich für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuches im ersten Trimenon ausgesprochen" hat. Also auch die Position von Brosius-Gersdorf vertritt.
Abtreibungen als Zündstoff
Dass die Debatte ausgerechnet beim Thema Abtreibung eskaliert, sei kein Zufall, sagt die Publizistin Kaiser. Schwangerschaftsabbrüche gelten seit Jahrzehnten weltweit als Kulturkampf-Thema. Konservative und Fundamentalisten mobilisieren dagegen, Liberale verteidigen reproduktive Rechte.
Für die Neue Rechte biete das Thema eine ideale Projektionsfläche. "Die rechte Idee von Frauen in der Gesellschaft ist Reproduktion", sagt Kaiser. "Hier geht es um die Kontrolle weiblicher Körper als Keimzelle der Nation." Abtreibungen würden als Angriff auf das "traditionelle Familienmodell" und als "Bedrohung der Volksgemeinschaft" stilisiert. In den USA werde das Thema gezielt zur Spaltung instrumentalisiert – etwa bei der Besetzung von Richterposten für den Supreme Court.
Unterstützung von Juristen
Zahlreiche Juristen zeigten sich entsetzt über den Umgang mit Brosius-Gersdorf. In einem offenen Brief stellen sich 285 Wissenschaftler, überwiegend Rechtswissenschaftler, hinter sie. Der Vorgang sei geeignet "die Kandidatin, die beteiligten Institutionen und mittelfristig […] die gesamte demokratische Ordnung zu beschädigen." Zu den Unterzeichnenden gehört auch der Jurist Maximilian Pichl. Sein Fazit: "Die Kollateralschäden für die Justiz sind immens."
Im Video über dem Artikel: Was ist genau passiert und woran entzündet sich die Debatte? Darüber sprechen wir mit Kolja Schwartz aus der ARD-Rechtsredaktion in Karlsruhe, mit Anita Fünffinger aus dem BR-Hauptstadtstudio und außerdem mit Prof. Susanne Beck von der Universität Hannover.
Im Audio: Was Frauke Brosius-Gersdorf zur Abtreibung sagt
Eine Hebamme tastet den Bauch einer Frau ab, die im neunten Monat schwanger ist.
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