Frauke Brosius-Gersdorf, Juristin, stellt im April 2024 den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor.
Frauke Brosius-Gersdorf, Juristin, stellt im April 2024 den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor.
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In einer Predigt hat der Erzbischof von Bamberg die Nominierung von Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht als Skandal bezeichnet.
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In einer Predigt hat der Erzbischof von Bamberg die Nominierung von Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht als Skandal bezeichnet.

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Wie die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf ins Laufen kam

Wie die Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf ins Laufen kam

In einer Predigt hat der Erzbischof von Bamberg die Nominierung von Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht als Skandal bezeichnet. Experten zeigen nun auf, wie gegen die Rechtsprofessorin eine gezielte Kampagne gefahren wurde.

Über dieses Thema berichtet: Stadt Land Leute am .

Ein Erzbischof predigt am Sonntag in Bamberg. Er nennt dabei eine politische Personalentscheidung einen "Skandal". Und er unterstellt einer von der SPD vorgeschlagenen Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, dass diese das Lebensrecht ungeborener Menschen bestreite. Zu Unrecht, wie die Kandidatin beteuert. Was steckt dahinter?

Ausgangspunkt der Kritik an Brosius-Gersdorf ist ein Bericht der Kommission zur "reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" (externer Link). An dem hat die Juristin mitgeschrieben und ihn im vergangenen Jahr vorgestellt. Der Bericht ist nachzulesen auf der Seite des Bundesjustizministeriums. Das Lebensrecht ungeborener Menschen bestreitet darin aber niemand.

Experten zeigten ein juristisches Problem auf

Der Kommission gehörten 18 Professorinnen und Professoren an. Sie gaben ihre Einschätzung zu Fragen der Bundesregierung ab. Und sie machten deutlich, dass der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland unter bestimmten Umständen zwar straffrei, aber dennoch rechtswidrig sei – ein Dilemma der Verfassung. Die Kommission schreibt: "Es bleibt der einzige Ausnahmefall, in dem der Gesetzgeber eine Straflosigkeit bei Rechtswidrigkeit ausdrücklich gesetzlich im Strafgesetzbuch regelt."

Denn im Notfall muss zwischen dem Wohl des ungeborenen Kindes und dem der Mutter abgewogen werden, auch wenn beide über das gleiche Maß an Menschenwürde verfügen. Gelöst werden könne das Problem, indem das ungeborene Leben nicht die gleiche Menschenwürde erhalte wie das geborene – oder aber, wenn die Menschenwürde abgewogen werden könnte (externer Link). Positioniert haben sich die Juristen in dieser Frage nicht.

Kommunikations-Experte: Kampagne gegen Brosius-Gersdorf

Warum also glaubten Menschen, die Juristin "bestreite das Lebensrecht ungeborener Menschen"? Philipp Sälhoff ist Geschäftsführer des Berliner Thinktanks "Polisphere". Seine "Beratungsagentur für politische Kommunikation" scannt täglich tausend Medien-Beiträge und Influencer-Posts. Sälhoff und sein Team geben an, parteipolitisch neutral und finanziell unabhängig zu sein. Täglich beschäftigen sich die Kommunikations-Experten mit Fällen von Desinformation. Bei Brosius-Gersdorf mit dem Ergebnis: Sie wurde Opfer einer Kampagne. Und die wurde zehn Tage vor dem Wahltermin gestartet.

Gegner nehmen zuerst Impfpflicht und AfD-Verbot in den Fokus

Am 1. Juli war es Apollo News, ein rechtspopulistisches Online-Medium, das Brosius-Gersdorf mit den Worten beschrieb: "Impfpflicht, Grundgesetz gendern, AfD verbieten". Vergangenes Jahr nämlich hatte die Juristin in einer TV-Sendung gesagt, dass sie für ein AfD-Verbotsverfahren sei, "wenn es genügend Material gibt". Rechten Kreisen gilt sie seitdem offenbar als Feindbild.

Noch am selben Tag teilte Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt den Artikel auf "X" und erklärte: "Muss verhindert werden!" Einen Tag später titelte Reichelts Portal Nius: "Immer mehr Unionspolitiker äußern Zweifel an der Wahl von Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin". Am selben Tag fragte Tichys Einblick: "Verspielt die Union endgültig das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts?". Ebenfalls am selben Tag sprang die Junge Freiheit, das Sprachrohr der Neuen Rechten, auf den Zug auf und titelte: "Befürworterin von AfD-Verbot soll Verfassungsrichterin werden".

Ab dem dritten Tag nimmt das Thema Abtreibung Fahrt auf

Zwei Tage später wurde Brosius-Gersdorf auf dem österreichischen Rechtsaußen-Medium "Auf1" bereits als "Hardcore-Abtreibungsbefürworterin" bezeichnet. Die Analyse der Kommunikationsforscher zeigt, dass die rechten Medien plötzlich feststellten, dass mit dem Thema Abtreibung noch weit größere Kreise bis hin zur Kernwählerschaft der Union mobilisiert werden konnten. Die Kampagne nahm Fahrt auf.

Die Anzahl der Artikel über Brosius-Gernsdorf stieg ab diesem Moment stark an. Alleine bei Nius haben die Kommunikations-Experten mehr als 20 Beiträge in nur zehn Tagen gezählt.

Juristin wird zur "radikalen Lebensfeindin"

Auf TikTok bedienten da bereits KI-generierte Accounts die User mit der Behauptung, Brosius-Gersdorf wolle Abtreibungen bis zum neunten Monat legalisieren. AfD und Privatpersonen fluteten die Werbeflächen der Sozialen Medien. Brosius-Gersdorf sei "der sozialistische Justizputsch in Deutschland", war zu lesen. Hinzu kamen Petitionen, die die Juristin als "radikale Lebensfeindin" bezeichneten. Abtreibungsgegner riefen dazu auf, Mails an Bundestagsabgeordnete der Union zu schreiben und vor der Juristin zu warnen.

Einen Tag vor der geplanten Wahl der Juristin kamen dann Plagiatsvorwürfe hinzu. Zu dieser Zeit wurde sie bereits als "linksradikale Aktivistin" bezeichnet. Ein kritischer Zeitpunkt, der ein Gegenlenken der Betroffenen oder anderer Medien nicht mehr zuließ. "Der Raum war mit Desinformation geflutet", sagen die Experten. In einer solchen Situation würden Informationen, die ins eigene Weltbild passten, oft ungeprüft übernommen.

"X" sticht bei derartigen Kampagnen heraus

Auffallend sei, dass die Plattform "X" in derartigen Kampagnen besonders heraussteche, sagen die Experten. Wie zum Beweis, schreibt auch die frühere Bundestagsabgeordnete der AfD, Joana Cotar, am Tag des Scheiterns der Richterin: "Wie wichtig X ist, sieht man auch am heutigen Tag! Ohne die Welle, die hier losgetreten wurde, die Informationen, die geteilt wurden, der Widerstand, der sich formiert hat, wären die Richterwahlen heute sang- und klanglos durchgegangen."

2. Senat könnte bei AfD-Verbot wichtig werden

Wer aber steckt hinter der Kampagne? Man könne nur spekulieren, aber es gebe Indizien, sagt Sälhoff: Brosius-Gersdorf sollte schließlich in den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes gewählt werden. Über Abtreibungsfragen wird dort gar nicht entschieden, wohl aber über ein Verbotsverfahren der AfD, so es denn komme. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt diese Aufteilung. Laut den Kommunikations-Experten gibt es aber eher keinen einzelnen Initiator. Vielmehr habe die Vernetzung unterschiedlicher Akteure eine Eigendynamik entwickelt. Die Wahl von Brosius-Gersdorf und zwei weiterer Verfassungsrichter wurde im Bundestag schließlich vertagt.

Die Vertagung sei zwar nicht allein auf die Kampagne zurückzuführen, sagt Sälhoff. Doch sei diese auf fruchtbaren Boden gefallen, in einer Zeit großer Unsicherheit und hoher politischer wie gesellschaftlicher Polarisierung.

Kampagne mit Folgen für den Bundestag: ein beispielloser Vorgang

Sälhoff spricht daher von einem "beispiellosen" Vorgang. "Impulse" von Rechtsaußen habe es zuvor schon gegeben. Diesmal allerdings habe das Folgen für eine Entscheidung im Deutschen Bundestag gehabt. Die Zahl solcher "Impulse" werde sich nach dieser Kampagne nun erhöhen, glaubt Sälhoff.

Im Video: Richterwahl - Kandidatin Brosius-Gersdorf wehrt sich

Richterwahl: Kandidatin Brosius-Gersdorf wehrt sich
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Richterwahl: Kandidatin Brosius-Gersdorf wehrt sich

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