Normalerweise sitzen Touristen und Tagesausflügler am Berliner Spreebogen, zumindest bei höheren Temperaturen. An diesem Montagvormittag aber sind dunkle Stiefelpaare auf den Treppenstufen dort aufgereiht, fast bis hinunter zum Flussufer. Dazwischen grellgelbe Schilder, auf denen Greenpeace-Aktivisten vor einer Reaktivierung der Wehrpflicht warnen: "Diese Stiefel ziehen wir uns nicht an."
Wehrdienstmodell: Militärhistoriker kritisiert "Halbherzigkeit"
Nun steht im Gesetzentwurf zum neuen Wehrdienst nichts davon, dass in nächster Zeit eine allgemeine Dienstpflicht geplant wäre. Doch manche Kritiker verstehen die Pläne als einen ersten Schritt dorthin. Das schwingt auch bei der Expertenanhörung im Bundestag mit, dem Anlass dieser Protestaktion.
Der Verteidigungsausschuss hat sechs Sachverständige eingeladen. Ein wichtiger Punkt in ihren Stellungnahmen: die Frage, ob ein freiwilliger Wehrdienst angesichts der Bedrohung durch das russische Regime ausreichend ist. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel verneint das. Aus seiner Sicht ist der Gesetzentwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zwar ein "Schritt in die richtige Richtung". Zugleich sieht er in den Plänen aber einen Beleg für die "Halbherzigkeiten der deutschen Sicherheitspolitik".
Bundeswehrverband: Wehrpflicht als Signal der Abschreckung
Neitzel hält eine sogenannte Auswahlwehrpflicht für nötig. Gemeint ist ein Modell, bei dem nach der Musterung eines ganzen Jahrgangs Geeignete nach Bedarf für den Wehrdienst ausgewählt und verpflichtet werden. Ähnlich äußert sich André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbands. Er spricht sich bei der Anhörung für einen "Umschaltmechanismus" aus – für den Fall, dass sich nicht genügend junge Leute freiwillig melden. Als Zeichen der Abschreckung an die Adresse des russischen Regimes und als Signal, dass die Koalition nicht Parteiinteressen in den Vordergrund stellt, sondern das Gemeinwohl.
Zum ganzen Bild gehört allerdings, dass diese beiden Experten auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion zur Anhörung eingeladen wurden. Und auch die Union könnte sich deutlich mehr verpflichtende Elemente im neuen Wehrdienst vorstellen, hat im vergangenen Winter mit der Forderung nach einer "aufwachsenden Wehrpflicht" Wahlkampf gemacht. Nur zieht der Koalitionspartner SPD an dieser Stelle nicht mit.
Schülervertreter fordert mehr Beteiligung junger Leute
Quentin Gärtner von der Bundesschülerkonferenz bringt eine Perspektive in die Diskussion ein, die seiner Ansicht nach bisher zu kurz gekommen ist: die von jungen Menschen. Man brauche junge Leute für die Landesverteidigung – "und trotzdem möchte man sie nicht einbeziehen." Das sei ein Fehler, sagt Gärtner. Er ist Mitglied bei den Grünen, nimmt aber hier in seiner Eigenschaft als Schülervertreter Stellung.
"Ganz viele junge Menschen möchten anpacken", stellt Gärtner klar. Nur sieht der 18-Jährige das Problem, dass die junge Generation nicht ausreichend auf kommende Herausforderungen vorbereitet werde: "Unsere Schulen sind eine absolute Katastrophe." Seine Generation werde vermutlich deutlich mehr leisten, als sie von der Gesellschaft zurückbekommt. Als Gründe dafür nennt er neben der sicherheitspolitischen Bedrohungslage auch die "Klimakrise" und die Alterung der Gesellschaft.
CSU pocht im Zweifel auf mehr verpflichtende Elemente
Es bleibe ja zunächst bei Freiwilligkeit, betont Thomas Erndl, der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion. "Soviel ändert sich gar nicht", sagt der CSU-Politiker am Rande der Anhörung im BR24-Interview. Nur bekämen junge Menschen künftig eben einen Fragebogen der Bundeswehr zugeschickt. Der Abgeordnete aus Niederbayern macht aber auch deutlich, dass er im Zweifel mehr verpflichtende Elemente für erforderlich hält. Für den Fall, dass die Bundeswehr ihre Rekrutierungsziele anders nicht erreicht.
Was genau in diesem Szenario passieren würde, bleibt aber auch nach dieser Anhörung offen. Der Grünen-Politiker Niklas Wagener kritisiert, dass nach wie vor wichtige Punkte ungeklärt seien. Zum Beispiel die Frage, ob im Rahmen von Musterung und Einberufung ein Losverfahren angewendet werden soll. "Wir wissen noch gar nicht: Was will eigentlich die Koalition?" Er erwarte von Union und SPD, "dass sie sich jetzt umgehend einigen", sagt der Aschaffenburger Abgeordnete zu BR24. Ansonsten sieht er den Zeitplan für das Gesetz in Gefahr.
Schwarz-Rot hält daran fest, dass der neue Wehrdienst Anfang nächsten Jahres in Kraft treten soll. Doch die Anhörung im Bundestag hat keinen Hinweis darauf geliefert, dass ein Durchbruch unmittelbar bevorstehen würde.
Im Video: Verteidigungsausschuss - Diskussion um Wehrdienst
(Symbolbild) Anfang nächsten Jahres soll das neue Wehrdienstgesetz in Kraft treten. Und noch immer sind viele Fragen offen.
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