Lange war Landesverteidigung ein Randthema. Erst der russische Angriff auf die Ukraine rückte sie wieder ins Zentrum der politischen Debatte. Bereits unter Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz wurde das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen. Noch vor der Kanzlerschaft von Merz verabschiedete der Bundestag eine Grundgesetzänderung, die Verteidigungsausgaben ab einer bestimmten Höhe von der Schuldenbremse ausnimmt.
In seiner ersten Regierungserklärung sagte Friedrich Merz nun, dass man "alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen [müsse], die die Bundeswehr braucht, um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden." Das sei dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas angemessen. Was bedeutet das konkret?
Was heißt "konventionell"?
"Konventionell bezieht sich in diesem Zusammenhang auf klassische, militärische Fähigkeiten, das heißt: alles, bis auf biologische, chemische und nukleare Waffen", erklärt Amelie Stelzner-Doğan, Referentin Bundeswehr und Gesellschaft bei der Konrad-Adenauer-Stiftung im BR24-Interview. Als konkrete Beispiele nennt sie Panzer, Schiffe, Flugzeuge, aber auch Logistik und vor allem Personal.
Wo steht Deutschland im europäischen Vergleich?
Großbritannien und Frankreich sind Atommächte, beide Länder haben gemessen an der Bevölkerungszahl deutlich mehr Soldaten als Deutschland. Großbritannien hat eine besonders starke Marine, Frankreich eine moderne Luftwaffe. Polen will seine Truppenstärke auf 250.000 ausbauen, investiert deutlich mehr seines Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung und verfügt im Vergleich zu Deutschland, Frankreich und Großbritannien über deutlich mehr Panzer. Wie kann man die Länder bei diesen vielen Kategorien vergleichen? Und sollte man das überhaupt?
Fragt man Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Uni Hamburg, ist das nicht der richtige Ansatz. "Im Einzelnen diese Vergleiche zu ziehen, halte ich nicht für sinnvoll", sagt Graef im Gespräch mit BR24. "Vor allem deswegen, weil wir Bündnis- und Landesverteidigung im Rahmen der NATO gemeinsam denken."
Deswegen müsse man die Äußerung von Merz im europäischen Kontext betrachten, so Verteidigungsexperte Graef. "Was Merz hier macht, ist ein politisches Signal." Der Kanzler bestätige in ähnlicher Form Aussagen, die auch sein Vorgänger Olaf Scholz getroffen hatte. "Merz zeigt dadurch am Anfang seiner Kanzlerschaft: Das ist einer der wichtigen Bausteine in der deutschen Politik der nächsten Jahre." Insofern sei der politische Symbolwert entscheidend – zugleich sei es auch ein deutliches Signal an die Verbündeten, dass man Pläne und Zusagen innerhalb der NATO auch umsetzen werde.
Ähnlich sieht es Stelzner-Doğan von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Es gehe nicht darum, wann die Bundeswehr wen in welcher Kategorie überholt hat. Merz‘ Äußerung "ist ein Signal an die Truppe: 'Wir sehen euch, wir investieren in euch'".
Wo muss investiert werden?
Für Stelzner-Doğan müssten erst konkrete Überlegungen angestellt werden: "Auf welches Szenario bereiten wir uns konkret vor? Womit rechnen wir?" Sie verweist auf den Krieg in der Ukraine, der gezeigt habe, dass sich die Kriegsführung stark gewandelt habe. "Es geht nicht darum, dass wir die Fähigkeiten, die wir früher mal hatten, einfach wieder aufbauen." Bereiche, in denen investiert werden müsste, gebe es genug. "Ich glaube, jeder Inspekteur der Teilstreitkräfte hat einen langen Wunschzettel." Besonders wichtig sei, wie man den Bedarf abdeckt. "Die Beschaffung ist meiner Meinung nach eine der Achillesfersen der Bundeswehr", so Stelzner-Doğan.
Beim Heer gebe es klare Fähigkeitslücken, sagt Alexander Graef. Als Beispiele nennt er Artillerie-Systeme und -Verbände, den Wiederaufbau der Flugabwehr und die Aufklärung über bestimmte Entfernungen hinaus. Bei der Marine gehe es ebenfalls um Flugabwehr, aber auch um unbemannte Systeme, bei der Luftwaffe um präzise Langstreckenwaffen wie das Taurus-System.
Stelzner-Doğan sieht zudem nicht nur Bedarf im Militärischen. "Deutschland ist die Drehscheibe der NATO", man müsse deswegen auch massiv in die Infrastruktur, in Straßen und Brücken, investieren. Und als einen der wichtigsten Punkte nennt Stelzner-Doğan das Personal.
Ist das freiwillige Wehrdienst-Modell ausreichend?
Gegenwärtig hat die Bundeswehr rund 182.000 Soldatinnen und Soldaten. Die aktuelle Zielvorgabe liegt bei 203.000. Bereits jetzt fehlen also mehr als 20.000. Stelzner-Doğan begrüßt, dass im Koalitionsvertrag festgehalten wurde, dass man die Attraktivität der Bundeswehr ausbauen möchte. Aber reicht das? Verteidigungsminister Pistorius erklärte jüngst, dass die Freiwilligkeit des Wehrdienstes nicht garantiert ist.
Ob es wieder zu einer Wehrpflicht kommen wird, will Stelzner-Doğan zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen. Sie spricht sich allerdings für ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" aus. Zudem müsse es ein Ziel sein, dass Bundeswehr und Gesellschaft besser verzahnt werden.
Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik ist skeptisch, ob man die Personal-Ziele mit dem geplanten Modell dauerhaft erreichen kann. "Ich vermute, dass es über reine Freiwilligkeit nicht möglich sein wird, so viele Interessenten zu gewinnen." Aber die Frage hänge von mehreren Faktoren ab: "Was hat man für Pläne? Wie groß soll der Personalbestand am Ende tatsächlich sein?" Und je nachdem solle man auch über bessere Anreize, unter anderem finanzieller Art, nachdenken.
Wie blicken die Partner auf Merz‘ Ankündigung?
Kanzler Merz hatte im Bundestag zum Ziel, die konventionell stärkste Armee Europas zu haben, erklärt: "Das erwarten auch unsere Freunde und Partner von uns, mehr noch, sie fordern es geradezu ein". Das sieht Stelzner-Doğan ähnlich. Dass Deutschland mehr investiere, werde "europaweit begrüßt"; zumal Deutschland lange das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht erfüllt hat. Die Erwartung, dass Deutschland mehr für Verteidigung ausgibt, gebe es nicht erst seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten.
Bis wann ist es möglich und was kostet es?
Verteidigungsminister Pistorius hatte das Ziel ausgegeben, bis 2029 "kriegstüchtig" sein zu wollen. Diese Vorgabe ist zwar nicht gleichbedeutend mit der "konventionell stärksten Armee Europas", aber gibt zumindest einen Zeitrahmen vor, bis wann sich grundlegende Dinge verbessert haben sollen. Die konventionell stärkste Armee Europas zu haben, das werde – wenn man alle Zielbilder erfülle – bis in die 2030er-Jahre dauern, glaubt Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.
Den finanziellen Bedarf zu beziffern, da tun sich beide Experten schwer. "Ich gehe davon aus, dass der Verteidigungshaushalt signifikant wachsen wird", sagt Graef. Bundesaußenminister Wadephul hatte sich jüngst hinter die Forderung von US-Präsident Trump gestellt, dass die NATO-Länder fünf Prozent ihres Bundeshaushalts in Verteidigung investieren sollen. Im Falle Deutschlands wären das rund 225 Milliarden pro Jahr.
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