Die Lieferungen rollen wieder. Erstmals seit Wochen sind Hilfsgüter in größerem Ausmaß im Gazastreifen angekommen, über den Landweg und durch sogenannte Airdrops: Abwürfe von Paketen aus der Luft. Israels Armee hat laut eigenen Angaben "ausgewiesene sichere Routen" eröffnet, auf denen Konvois der Vereinten Nationen durchfahren können. Täglich zwischen 10 und 20 Uhr soll es eine humanitäre Feuerpause geben, zumindest in einigen Gebieten.
Merz kündigt Luftbrücke nach Gaza an
Am Abend kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz zudem an, dass Deutschland "umgehend" gemeinsam mit Jordanien eine Luftbrücke zur Versorgung des Gazastreifens mit humanitären Gütern aufbauen will.
Ist das der so dringend herbeigesehnte Hoffnungsschimmer für die rund zwei Millionen Menschen in dem Gebiet, deren Lage laut Berichten zuletzt immer verzweifelter wurde? Merz räumt ein: "Wir wissen, dass das für die Menschen in Gaza nur eine ganz kleine Hilfe sein kann. Aber immerhin ist es ein Beitrag, den wir gerne leisten wollen."
Netanjahu: "Es gibt keinen Hunger in Gaza"
Die jüngsten Erleichterungen dürften vor allem aufgrund des massiven internationalen Drucks auf Israel zustande gekommen sein. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bringen sie scharfe Kritik aus dem eigenen Lager ein: Der rechtsextreme Minister Itamar Ben-Gvir erklärte, die Lieferung humanitärer Hilfe sei gleichbedeutend mit der "Lebenserhaltung des Feindes". Er ist Verfechter der Idee, den Gazastreifen vollständig einzunehmen und die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben.
Netanjahu selbst beklagte eine falsche Kampagne mit manipulierten Bildern von Kindern, die von der Hamas verbreitet worden sei: "Es gibt keinen Hunger in Gaza, keine Politik des Hungerns", sagte er und forderte: "Hört auf, Israel absichtlich dieser ungeheuren Lüge zu bezichtigen".
Hilfsorganisationen berichten von katastrophalen Zuständen
Hilfsorganisationen schildern ein gänzlich anderes Bild: So etwa Ärzte ohne Grenzen, die laut eigenen Angaben noch mit über 1.000 Helferinnen und Helfern vor Ort sind. "Wir haben schwerst mangelernährte Kinder in unseren Krankenhäusern", so die Leiterin der Advocacy-Abteilung, Lara Dovifat, im Gespräch mit BR24. Zusätzlich – und das sei "ein Riesenproblem" – komme es zu immer mehr Frühgeburten, da die werdenden Mütter nicht genug Nahrung bekämen. Viele seien körperlich auch nicht in der Lage, ihr Neugeborenes zu stillen. "Das ist im Grunde ein Todesurteil, weil es auch keine spezialisierte Babynahrung gibt", so Dovifat.
Die Situation verändere sich angesichts der jüngsten Ankündigungen ständig, ein Teil der Menschen sei aber zweifellos in einer katastrophalen Lage, bestätigt Marvin Fürderer von der Welthungerhilfe, die ebenfalls Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort hat. "Man kann durchaus sagen: 500.000 Menschen verhungern", so Fürderer im Gespräch mit BR24.
Höchste Stufe der Hungerskala erreicht?
Zuletzt sorgte eine Nachricht für Aufregung, die sich besonders in den sozialen Netzwerken Instagram und TikTok verbreitete: in Teilen des Gazastreifens sei Hungerstufe 5, also die höchste Stufe, erreicht. Gemeint ist Stufe 5 der IPC-Skala (Integrated Food Security Phase Classification), ein internationales System zur Klassifizierung von akuter Ernährungsunsicherheit. Sie wird genutzt, um die Schwere von Ernährungskrisen zu beurteilen.
Fürderer von der Welthungerhilfe bezeichnet die Lage als akut, ordnet jedoch ein: Derzeit könne nicht unabhängig überprüft werden, ob Stufe 5, also eine Hungersnot, erreicht sei. Die Kriterien müssten über unabhängige Datenerhebung nachgewiesen werden, was schlichtweg nicht möglich sei, da der Zugang zum Gazastreifen für Journalisten und Forscher versperrt ist. "Es kann durchaus sein, dass formell schon eine Hungersnot herrscht, aber die belastbaren Daten haben wir dafür nicht."
Grafik: Die fünf Stufen von Ernährungssicherheit zu Hungersnot
Grafik: Die 5 Stufen von Ernährungssicherheit zu Hungersnot
"Unsere Helfer essen nur noch an jedem zweiten Tag"
Die Berichte über die Lage von vor Ort kommen in vielen Fällen von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen. Auch diese leiden zunehmend unter den Zuständen, wie Ärzte ohne Grenzen berichtet: Man habe von den eigenen Helfern erfahren, dass diese mittlerweile nur noch an jedem zweiten Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen könnten. Immer wieder falle jemand in Ohnmacht oder sei zu geschwächt, um anderen zu helfen.
Auch Fürderer von der Welthungerhilfe sagt: "Unsere Mitarbeiten kriegen natürlich ein Gehalt ausbezahlt. Aber das hilft nichts, wenn nichts auf dem Markt verfügbar ist. Es ist schon Wahnsinn, unter welchen Bedingungen die versuchen, Hilfe zu leisten, obwohl sie selbst den gleichen Hunger erleiden."
Neue Hilfslieferungen als Hoffnungsschimmer?
Können die wieder angelaufenen Hilfslieferungen die große Katastrophe überhaupt noch abwenden? Dovifat von Ärzte ohne Grenzen sagt: "Dass sich da seit gestern wieder etwas tut, stimmt uns vorsichtig optimistisch." Allerdings dauere es, bis die Infrastruktur für die neuen Hilfen stehe. "Es ist tatsächlich zu spät und trotzdem muss man jetzt alles tun, damit die Hilfe wieder aufgebaut werden kann."
Fürderer von der Welthungerhilfe kritisiert, dass die Grenzzugänge im Norden nach wie vor versperrt seien. "Jetzt kommen die Waren im Süden rein, allerdings ist die Infrastruktur so zerstört, das heißt: Ganz realistisch wird von der Hilfe im Norden nichts ankommen."
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