Bisher fanden Klimaklagen hauptsächlich vor nationalen Gerichten statt. Doch nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmals über eine Klimaklage entschieden. In einem Urteil vom 09. April gibt der Gerichtshof einer Schweizer Vereinigung recht, die die Schweiz wegen unzureichender Klimaschutzmaßnahmen verklagt hatte.
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"Klimaseniorinnen" erhalten Verbandsklagerecht
Die "Klimaseniorinnen", eine Gruppe älterer Damen, hatten vor dem EGMR geklagt. Kernargument: Ihr hohes Lebensalter und die besondere Gefährdung durch den Klimawandel (beispielsweise Hitze). Der Gerichtshof in Straßburg gestand ihnen das Klagerecht zu. Damit mache das Gericht Klimapolitik zu einem Menschenrecht, jubeln Umweltverbände.
Kritiker weisen darauf hin, dass das Gericht gleichzeitig andere Klimaklagen abgelehnt hat. Alles nur Einzelfall? Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich nun daraus?
Die rechtlichen Folgen des Klimaurteils
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der aus 46 Mitgliedstaaten besteht. Er behandelt Beschwerden zu Verletzungen der Rechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt sind. Die Urteile des Gerichtshofs sind rechtlich bindend, ihre Umsetzung wird von den einzelnen Ländern unterschiedlich gehandhabt.
Typischerweise stellt der Gerichtshof in seinen Entscheidungen fest, ob eine Menschenrechtsverletzung vorliegt und fordert die betreffenden Staaten auf, diese zu beheben. Darüber hinaus können den betroffenen Personen auch Schadensersatzansprüche zugesprochen werden. Die Politik muss also handeln, hat aber Spielräume.
Im Video: Erste Klimaklage vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Erfolg
Klimaklagen: Große Aufmerksamkeit, aber häufig abgewiesen
Ein Gericht entscheidet immer von Klage zu Klage, von Verfahren zu Verfahren. Urteile können ähnlich ausfallen oder sich fundamental unterscheiden. Deshalb sind juristische Entscheidung immer Einzelfallentscheidungen.
Dennoch ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes ein Fingerzeig in Richtung Politik. Denn immer mehr Umweltorganisationen, Verbände und Privatpersonen rufen nicht mehr Parlamente, sondern Gerichte an. Auch der Weltklimarat (IPCC) erkannte 2022 erstmals an, dass rechtliche Prozesse Klimapolitik maßgeblich beeinflussen können. Wie erfolgreich die Klima-Kläger sind, hängt meist an der Strategie.
Prominente Klimaklage: Ein Bauer aus Peru gegen RWE
2015 reicht ein peruanischer Bauer eine Klimaklage gegen den Energiekonzern RWE am Landgericht Essen ein, weil das Schmelzwasser des Gletschers sein Dorf und sein Haus bedroht. Unterstützt wird er dabei von der Umweltorganisation "Germanwatch". Der Bauer argumentiert, dass RWE mitverantwortlich sei für den Klimawandel.
Das Verfahren hatte weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Bis dahin hatte noch nie ein einzelner Mensch in einem zivilrechtlichen Verfahren einen Konzern wegen des Klimawandels vor Gericht gebracht. Seitdem streitet der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuya vor Gericht (mittlerweile nach Berufung vor dem Oberlandesgericht Hamm) mit dem Energiekonzern RWE wegen der Bedrohung seines Dorfes durch den Klimawandel.
RWE sei für 0,47 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, so der Vorwurf des Bauers. Dementsprechend solle RWE auch ein halbes Prozent der notwendigen Schutzmaßnahmen in seinem Gemeindeverbund bezahlen. Insgesamt geht es um weniger als 25.000 Euro. Eine vergleichsweise kleine Summe. Aber weltweit wird dieser Fall als möglicher Präzedenzfall für weitere ähnliche Klagen angesehen. Der Knackpunkt ist die Kausalkette: Kann ein Unternehmen in Deutschland für Umweltkatastrophen in Peru verantwortlich gemacht werden? Darüber dauert der Streit nun schon seit 2015 an.
Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Im Frühling 2021 entscheidet das deutsche Bundesverfassungsgericht, dass das Klimaschutzgesetz überarbeitet werden muss, nachdem die Klima-Kläger argumentieren, dass es ihre Zukunft gefährde. Der Klima-Beschluss sorgt auch für große Aufmerksamkeit. Die damalige Bundesregierung signalisiert Handlungsbereitschaft. Nächtelange Verhandlungen der schwarz-roten Koalition im Kanzleramt von Angela Merkel (CDU) folgen.
Die Ergebnisse sind unter anderem ein erweitertes Klimaschutzgesetz im Gegensatz zum ersten Gesetzentwurf und strenge Klimaziele – auch für die einzelnen Sektoren und Geschäftsbereiche der Minister. Insbesondere die Sektoren Gebäude und Verkehr hatten den größten Handlungsbedarf.
Doch aufgrund der Ereignisse in den vergangenen Jahren, zu denen Krieg, Inflation und die Energiekrise zählen, mussten einige Bereiche neu justiert werden: Kohlekraftwerke dürfen wohl doch länger in Betrieb bleiben, Flüssiggasterminals werden errichtet, Maßnahmen zum Artenschutz werden ausgesetzt und die Sektorziele werden verfehlt und teils aufgeweicht.
Die Annahme, der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts könne allein durch Überzeugung wirken, hat sich in der Rückschau als falsch erwiesen. Doch auch spätere Klagen, die sich an einzelne Maßnahmen richten, fallen unterschiedlich aus. Die Klage auf ein Tempolimit wurde abgewiesen. Dagegen muss die Stadt München strengere Dieselfahrverbote umsetzen, urteilte kürzlich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nach einer Klimaklage der Deutschen Umwelthilfe und des Verkehrsclubs Deutschland.
Klimaklagen auch in den USA - deutlich mehr Klimaklagen weltweit
Im August 2023 entscheidet in den USA im Bundesstaat Montana ein Gericht zugunsten jugendlicher Kläger, die argumentierten, dass die fossile Energiepolitik des Bundesstaates ihre Rechte auf eine gesunde Umwelt verletzt. Dieses Urteil könnte weitere Klimaklagen in den USA inspirieren. Jedoch sind auch in den USA politische Konsequenzen über den Einzelfall hinaus nur schwer umsetzbar, weil es dort keine allgemeinen Klimaschutzgesetze gibt, die gerichtlich belastet werden könnten. Außerdem unterscheidet sich das juristische System der USA wesentlich zu europäischen Rechtssystemen.
Trotz einer deutlichen Zunahme der Klagen seit 2020 auf weltweit rund 2.500 Fälle Ende 2023, schaffen nur wenige den Weg vor Gericht, weil viele Klagen schlicht abgewiesen werden. Dennoch gewinnen solche Klagen an Bedeutung, da sie gesellschaftliche Diskussionen anregen und Druck auf Entscheidungsträger ausüben. Obwohl Klimaklagen also keine direkte Lösung für den Klimawandel darstellen, tragen sie dazu bei, den Druck auf politische Entscheidungsträger und Unternehmen zu erhöhen und den Klimaschutz voranzutreiben.
Prozesse als politisches Druckmittel
Eine wachsende Zahl dieser strategischen Prozesse zielt also nicht darauf ab, rechtlich zu gewinnen, sondern darauf, öffentlichen Druck auf die Politik auszuüben. Ein Beispiel dafür ist die Klage der Nichtregierungsorganisation "Friends of the Irish Environment" vor dem obersten Zivil- und Strafgericht Irlands im Jahr 2019, die zunächst erfolglos bleibt. Anschließend zieht die NGO vor den irischen Supreme Court, den Obersten Gerichtshof. Bevor dieser sein Urteil verkünden kann, beschließt die Regierung bereits einen verbesserten nationalen Klimaaktionsplan.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes wird als historisch betrachtet und könnte zukünftige Klimaklagen auf nationaler und internationaler Ebene beeinflussen. Allerdings steht auf einem anderen Papier, welche politischen Handlungen aus den Klimaklagen folgen.
Dieser Artikel ist erstmals am 10.04.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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