Mit einem lauten Knall hat es Friedrich Merz ins Kanzleramt geschafft – erst im zweiten Anlauf. Doch wer von den vielen Besuchergruppen – Jugendliche wie Rentner – im Deutschen Bundestag mit einer lauten Antrittsrede des neuen Kanzlers gerechnet hat, wurde überrascht: Kanzler Merz kann auch leise und versöhnlich.
- Zum Hintergrund von tagesschau.de: Staatsmännisch statt angriffslustig
Neue Rolle prägt den Stil
Die neue Rolle prägt den Stil: Statt Attacke dominieren jetzt Anerkennung, Appelle und Aufbruchsstimmung. Friedrich Merz schlägt ruhigere Töne an, zeichnet ein positives Bild von Deutschland, wählt Worte wie "großartiges Land", "Vertrauen" und "Kraft". Diesen Wandel in der Rhetorik hat Friedrich Merz vollzogen. Hat er sich früher von Zwischenrufen ablenken lassen, lässt er diese jetzt ins Leere laufen. Wohl auch ein Grund hierfür: Viel Angriffsfläche für Zwischenrufe bietet Merz mit seiner Rede nicht. Doch er nutzt seine Position, spricht elf Minuten länger als geplant. In 62 Minuten ist er vor allem um Zusammenhalt und Zusammenarbeit im Parlament bemüht, will verbinden statt spalten. Die Botschaften sind klar gesetzt: außenpolitisch fokussiert, innenpolitisch anschlussfähig.
Vom scharfen Oppositionsführer zum staatsmännischen Kanzler
Gleich zu Beginn seiner Rede dankt er seinem Vorgänger Olaf Scholz, dass er "Deutschland durch Zeiten außergewöhnlicher Krisen geführt" hat – insbesondere mit der Ukraine-Hilfe, die Merz als "wegweisend" und "historisch" bezeichnet. Scholz sitzt als Abgeordneter jetzt in der zweiten Reihe, nickt anerkennend. Mit dem Dank an Scholz schlägt Merz eine Brücke zur eigenen Agenda, in deren Zentrum eins steht: ein geeintes, wehrhaftes Europa.
Bereits die ersten Reisen nach Paris, Warschau, Brüssel und Kiew unterstreichen den künftigen Fokus seiner Kanzlerschaft: die Außenpolitik. Merz verfolgt das Prinzip der europäischen Abschreckung – und damit die Stärkung der eigenen Bundeswehr: "Wir müssen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen".
Merz' Ziele: Wirtschaft ankurbeln, weniger Bürokratie, mehr Rückführungen
Gleichzeitig spiegelt sich in seiner Rede auch strategische Zurückhaltung. Merz erwähnt weder eine Rückführungsoffensive nach Syrien oder Afghanistan noch das Lieferkettengesetz – beides mögliche Konfliktlinien mit der SPD. Stattdessen betont er die Tarifbindung – ein Signal in Richtung Koalitionspartner. Die Vertreter der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD sind heute um Geschlossenheit bemüht – doch der teils verhaltene Applaus in den SPD-Reihen für den Kanzler macht ersichtlich: Unter ihnen gibt es nicht nur Merz-Fans.
Merz wirbt auch jenseits der eigenen Koalition
Der Kanzler ist daher um Einigkeit bemüht, er weiß: Für Grundgesetzänderungen beispielsweise wird er Mehrheiten jenseits der eigenen Koalition brauchen – von Grünen und Linken. Deshalb zielen seine Worte auch auf die Oppositionsparteien: "CO₂-Preis", "Klimaschutz" und "Bauen" – Themen, mit denen Grüne und Linke in den Wahlkampf gezogen sind. Doch beide Parteien in ihrer Oppositionsrolle werfen dem neuen Kanzler samt seiner Regierung vor, keine echten Reformen anzugehen, vage statt konkret zu sein.
Auffällig ruhig verhält sich während der Regierungserklärung die nun größte Oppositionsfraktion im Bundestag: die AfD. Keine Zwischenrufe, kein Applaus – demonstrative Zurückhaltung. Als neue Oppositionsführerin steht es AfD-Chefin Alice Weidel zu, als Erste auf Merz zu antworten. Sie startet zurückhaltend, geht dann jedoch auf Konfrontation: Merz, so ihr Vorwurf, sei ein "Kanzler der zweiten Wahl" und ein "Kanzler der Linken" – eine spitze Anspielung auf den zweiten Wahldurchgang, der nur mit Stimmen von Grünen und Linken machbar war.
Friedrich Merz selbst kennt die andere Seite nur zu gut: Noch bis vor Kurzem gehörte er zur Opposition, jetzt steht er im Zentrum der eigens ausgerufenen Verantwortung. Die Rollen sind getauscht – mit ihnen auch die Tonlage. Hat er früher selbst ausgeteilt, muss Merz jetzt einstecken. Der Gegenwind im Parlament ist spürbar, und auch in der Bevölkerung trifft Merz auf eine gereizte Grundstimmung. Der Kanzler will sie drehen: Schon im Sommer, so sein erklärtes Ziel, sollen die Menschen im Land spüren, dass sich "etwas zum Guten" verändert. Doch für diesen Stimmungswechsel nimmt Merz das ganze Land in die Pflicht. Es ist der Versuch, eine verbindende Erzählung zu etablieren: politisch wie gesellschaftlich.
Video: Politikforscher Albrecht von Lucke analysiert die Regierungserklärung
Albrecht von Lucke
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