Angela Merkel sagt in einem Interview (externer Link), ohne Corona hätte Putin die Ukraine nicht angegriffen. Ist also Corona der wahre Grund für den Ukraine-Krieg?
Ich denke, sie hat recht. Putin hatte sicher schon vorher den Wunsch, das russische Imperium wiederherzustellen. Aber es auf diese plötzliche, rücksichtslose und letztlich gescheiterte Weise zu tun – das führe ich auf seine verzerrte Denkweise zurück, durch die Isolation während Corona.
"Die Effekte von Macht sind im Wesentlichen die von Kokain"
Bereits 2014, nach der Krim-Annexion, haben Sie in einem Artikel (externer Link) davor gewarnt, dass sich Putins Persönlichkeit durch seine enorme Macht verändern würde. Was meinen Sie damit?
Macht ist für menschliche Beziehungen das, was Energie für die Physik ist – fundamental, aber viel zu wenig erforscht. Wenn man Macht erhält, steigt das Testosteron, das wiederum das Dopamin im Belohnungssystem erhöht. Man fühlt sich selbstbewusster. Die Effekte von Macht sind im Wesentlichen die von Kokain – und Putin hat das in massiven Dosen abbekommen. Das macht aggressiv, extrem optimistisch, steigert das Selbstwertgefühl und lässt einen sich allmächtig fühlen. Die meisten Diktatoren fühlen sich irgendwann gottähnlich. Julius Cäsar ließ sich zu Lebzeiten zum Halbgott erklären. Bei Putin kommt noch eine spirituelle, nationalistische Vision für Russland hinzu, die ihn noch gefährlicher macht.
Covid war also eine Art Beschleuniger dieser Entwicklung?
Ja, genau. Putin war während Corona panisch. Wir wissen das durch seine extremen Vorsichtsmaßnahmen: dieser enorm lange Tisch; jeder, der ihn sehen wollte, musste eine Stuhlprobe abgeben, sich in Quarantäne begeben und durch einen Tunnel gehen, in dem man mit Desinfektionsmittel besprüht wurde.
"Enorme Wut, gepaart mit Angst vor Corona"
Corona verängstigte und isolierte ihn. Es gab kein Korrektiv mehr durch Berater, keine Korrektur seines Denkens. Bestimmt hat er sich mit russischer Geschichte beschäftigt, mit Peter dem Großen etwa. Dazu seine Wut über die Nato in Estland, Litauen und Polen, dieses Gefühl des Verrats durch den Westen. Er kam aus der Pandemie mit dieser enormen Wut, gepaart mit der Angst vor Corona. Das überwältigte rationale Überlegungen. Und im Ergebnis sehen wir das militärische Desaster der Ukraine-Invasion.
Im Video: Ist Corona schuld am Ukraine-Krieg? Possoch klärt!
Wie passt es zusammen, sich Gott-ähnlich zu fühlen und gleichzeitig so ängstlich zu sein?
Schauen Sie ins Alte Testament, da ist Gott auch sehr aufbrausend. Aber kein Mensch kann wirklich glauben, Gott zu sein. Irgendwo im Bewusstsein bleibt das Wissen, dass man aus Fleisch und Blut besteht, altert und verwundbar ist, besonders gegenüber dem Coronavirus.
Das menschliche Gehirn ist komplex genug für diese widersprüchlichen Zustände. Wenn Putin sich wirklich sicher und Gott-ähnlich fühlen würde, müsste er nicht all diese Menschen töten – jeden, der irgendwie aufbegehrt. Und die Geister dieser Toten suchen einen heim: Shakespeares Macbeth ist die wunderbarste Darstellung genau dieses Geisteszustands.
Deshalb haben die Menschen die Demokratie erfunden – um die Macht zu beschränken. Durch Wahlen, eine unabhängige Justiz, die freie Presse: alles Dinge, die Diktatoren und die, die es werden wollen, wie Donald Trump, als Erstes loswerden wollen.
"Sich Gott-ähnlich zu fühlen ist eine extreme Form von Narzissmus"
Diktaturen sind sehr fragil, weil es keine Korrekturmechanismen gibt – keine unabhängige Justiz, keine Wahlen. Alles ist transaktional, es gibt sehr wenig Vertrauen. Sich Gott-ähnlich zu fühlen ist eine extreme Form von Narzissmus, und Narzissmus ist immer fragil. Deshalb sind Leute wie Präsident Trump so dünnhäutig. Jeder, der es wagt zu kritisieren, muss vernichtet werden.
Wie sollte der Westen mit Putin umgehen?
Das Einzige, was Putin respektiert, ist Stärke. Das Schlimmste wäre, zu versuchen, ihn zu beschwichtigen.
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