Diese Geschichte beginnt mit einer E-Mail, die ein anonymer Absender Reportern des Bayerischen Rundfunks und der Financial Times (FT) schickt. Angehängt ist eine Datei, hunderte Seiten mit Fotos, Verträgen und Ausweiskopien. Bis heute kennen beide Medien die Identität des Hinweisgebers nicht. BR und FT haben in den vergangenen Wochen mit Insidern gesprochen. Sie vermuten: Es könnte Jan Marsalek selbst sein.
In den Unterlagen geht es um Investments des Ex-Wirecard-Managers in die libysche Öl- und Zementindustrie - und um die Frage, ob Geschäftspartner einen der mutmaßlich größten Betrüger in der Geschichte der Bundesrepublik nach seinem Untertauchen um Millionen gebracht haben.
Jan Marsalek - Opfer eines Komplotts?
Beim Londoner Handelsgericht ist seit Anfang Oktober ein Rechtsstreit anhängig. Im Raum steht der Vorwurf eines Komplotts und damit zusammenhängende finanzielle Verluste. Die Vorwürfe richten sich gegen den Geschäftsmann Ahmed B., der Marsalek und weiteren Anteilseignern diese Verluste beschert haben soll. Neben einem libyschen und einem saudischen Pass hat Ahmed B. auch einen britischen. In London leitet er ein Investment-Unternehmen.
Außerdem in der Klage aufgeführt: Vier Firmen, mit denen Ahmed B. in Verbindung steht. Darunter befinden sich die im libyschen Öl-Sektor tätige Lorasco Limited sowie die Libya Cement Holdings Limited. Beide sind auf den Cayman Islands registriert. Eingereicht hat die 29-seitige Klage Damviol, eine Dubaier Firma, hinter der Victoria Bowman steht. Die gebürtige Russin ist mit Joe Bowman verheiratet, einem früheren Geschäftspartner von Jan Marsalek zu Wirecard-Zeiten. "Er war ein fantastischer Investor und guter Freund", so Joe Bowmann zu BR und FT.
Bereits 2021 hatte report München über ein Investment von Jan Marsalek in die Libya Cement Company (LCC) berichtet. Demnach ging es Marsalek mit seinen Aktivitäten im Osten Libyens um den Aufbau von Grenzmilizen. Eine Region, die damals wie heute unter dem Einfluss Russlands steht. So wollte der Ex-Wirecard-Manager Flüchtlingsströme in die EU kontrollieren. Schon damals spielten offenbar russische Interessen eine Rolle.
Marsalek hat auch daran mitgewirkt, eine mittlerweile mit Sanktionen belegte russische Sicherheits-Firma ("RSB Group") zur Minenräumung auf dem Gelände der Zement-Fabrik in Benghazi einzusetzen. Ein zwischen der Zement-Firma und RSB geschlossenes "Service Agreement" von Mai 2017 mit einem Volumen von fast 1,5 Millionen Euro ist Teil der Unterlagen, die die anonyme Quelle BR und FT zur Verfügung gestellt hat.
Marsalek - inzwischen "toxisch"
Beide Medien sind weiteren Spuren zu Marsaleks Investments in Libyen nachgegangen. Sie haben Handelsregister durchsucht und mit Insidern gesprochen. Namentlich zitieren lassen will sich niemand. Der frühere Wirecard-Vorstand Marsalek sei inzwischen "toxisch".
Seit seiner Flucht lebt der ehemalige Wirecard-Vorstand in Moskau. Ein Doppelleben hat er schon länger geführt. Im Mai dieses Jahres verurteilte ein Londoner Gericht sechs Bulgaren zu langen Haftstrafen. Nach Überzeugung der britischen Behörden und des Gerichts hat die Zelle jahrelang unter Marsaleks Anleitung für Russland spioniert.
Libyscher Zement und Londoner Gerichtsstreit
Der jetzt ebenfalls in London eingereichten Klage zufolge soll Marsalek ab Ende 2016 in die libysche Öl- und Zementindustrie investiert haben. Über auf der Isle of Man und den British Virgin Islands gegründete Firmen soll er Anteile an der Zement-Holding und an Lorasco in Millionenhöhe erworben haben. Nach Angaben von Joe Bowman war der Ex-Wirecard-Manager "von Anfang an der Hauptinvestor bei Lorasco, und das war uns allen bekannt". Bowman betont sogar, ohne Marsalek hätte es "das ganze Investment nicht gegeben".
Für Bowmans Darstellung spricht, dass BR und FT bei ihren Recherchen auf eine Power Point-Präsentation aus dem E-Mail-Postfach von Jan Marsalek gestoßen sind. Die Ende November 2016 erstellte Datei mit dem Titel "Project Phoenix" skizziert detailliert, wie ein Investment in zweistelliger Millionenhöhe in die nordafrikanische Öl-Industrie aussehen könnte. Realisiert werden sollte dieses Investment laut Präsentation die mit Ahmed B. verbundene Libya Holdings Group.
Unregelmäßigkeiten bei Firmenverkauf – zu Marsaleks Lasten?
Nach Marsaleks Flucht und seinem Untertauchen in Moskau änderte sich offenbar die Geschäftsbeziehung zwischen den beteiligten Zement- und Ölinvestoren in Libyen. Einen möglichen Hinweis liefert Marsalek in Chats, die britische Behörden im Zuge des Spionage-Prozesses gegen die Bulgaren-Zelle offengelegt haben. Demnach beklagte sich Marsalek bei dem Kopf der Spionage-Gruppe, er habe einen schwierigen Tag hinter sich, weil jemand versuche, ihm Geld zu stehlen. Ob er damit tatsächlich das Libyen-Geschäft gemeint hat, ist unklar.
Wie die einstigen Geschäftspartner Marsalek finanziellen Schaden zugefügt haben könnten, geht aus der Damviol-Klage hervor: Der mit Marsalek verbundene Anteil an Lorasco sei 2021 und 2022 durch Ahmed B. im Zuge von Kapitalerhöhungen verwässert und auf unter zehn Prozent gedrückt worden - verbunden mit einem entsprechenden Wertverlust der Anteile.
Zu Beginn soll Marsalek mehr als die Hälfte der Konzern-Aktien gehalten haben. Ahmed B. schreibt dazu auf Anfrage von BR und FT, alle Anteilseigner hätten diesen notwendigen Schritt zur Refinanzierung gebilligt, nur so habe eine Insolvenz des Unternehmens vermieden werden können.
Zudem bestreitet der Geschäftsmann, frühzeitig von Marsaleks Investments gewusst zu haben. Der Ex-Wirecard-Manager habe "zu keinem Zeitpunkt in die Cement-Holdings investiert". Von dem finanziellen Engagement bei Lorasco über eine auf der Isle of Man registrierte Gesellschaft hat Ahmed B. nach eigenen Angaben erst 2022 erfahren - von Marsalek-Freund Joe Bowman. Zudem soll Bowman Ahmed B. 2020 in einer E-Mail mitgeteilt haben, es gebe keine geschäftliche Verbindung zu Marsalek.
Ahmed B. bestreitet Komplott-Vorwürfe
So hat es Ahmed B. auch in der Erwiderung auf die Damviol-Klage dargestellt. Das 40-seitige Papier liegt dem BR und der FT ebenfalls vor. Darin bestreitet Ahmed B. zudem den Vorwurf des Komplotts. Er und weitere Vorstände von beklagten Unternehmen hätten in der "gutgläubigen Erfüllung gesetzlicher, aufsichtsrechtlicher und treuhänderischer Pflichten" gehandelt.
Ein weiterer Vorwurf gegen Ahmed B. und die Firmen lautet: Beim Verkauf der zur Libya Cement Holdings Limited gehörenden Libya Cement Company für 47 Millionen US-Dollar an eine Firma in Dubai im vergangenen Jahr hätte es zusätzliche schriftliche Vereinbarungen gegeben, die nicht allen Beteiligten bekannt gewesen seien. So habe sich Ahmed B. mit dem Käufer auf die zusätzliche Zahlung von 15,5 Millionen US-Dollar geeinigt. Aus Unterlagen geht hervor, dass ein Teil dieses Geldes (2,5 Millionen US-Dollar) auf das persönliche Konto von Ahmet B. bei einer Bank in Benghazi geflossen ist.
Für die Dubaier Firma hat ein Geschäftsmann die Vereinbarung unterzeichnet, der BR und FT die Abläufe schriftlich bestätigt hat. Zweck der Vereinbarung über die zusätzliche Zahlung von 15,5 Millionen US-Dollar sei gewesen, "einen unterbrechungsfreien Betrieb während der Übergangsphase zu neuer Eigentümerschaft zu gewährleisten und die kommerziellen sowie regulatorischen Anforderungen zu erfüllen".
Ahmed B. betont, alle Anteilseigner seien über den Verkaufsprozess regelmäßig auf dem Laufenden gehalten worden. Er habe seine persönliche Bankverbindung zur Verfügung gestellt, weil die Muttergesellschaft, angesiedelt auf den Cayman Islands, in Libyen kein Konto besessen habe. Die 2,5 Millionen US-Dollar seien als Bonuszahlungen an Mitarbeiter der Zementfabrik und Beteiligte am Verkaufsprozess geflossen.
Marsalek der "Konflikt-Tourist"
Was Ahmed B. nicht bestreitet: Er und Jan Marsalek sind sich mehrfach begegnet, im Büro seiner Londoner Firma etwa. Das letzte Treffen habe es im Mai 2018 gegeben, im Rahmen einer gemeinsamen Reise von Ahmed B., Bowman und Marsalek in das vom Bürgerkrieg gezeichnete Libyen.
Aus "Sicherheitsgründen" hätten Bowman und Marsalek darum gebeten, mit Ahmed B. in einer Unterkunft untergebracht zu werden. Ihm sei Marsalek dabei vorgekommen wie ein "Konflikt-Tourist", so Ahmed B. weiter.
"Compliance-Gründe" – Wirecard-Bank lehnte Konto für Zement-Holding ab
Während sich Ahmed B. heute um Distanz zu Marsalek bemüht, hat seine Firma vor Jahren selbst versucht, Verbindungen zu ihm zu nutzen. Von BR und FT ausgewertete E-Mails und Unterlagen zeigen, dass sich der damalige Finanz-Vorstand einer Firma von Ahmed B. Anfang 2015 bei der Wirecard-Bank um ein Konto für die Holding-Company der libyschen Zementfirma bemüht hat. Dafür legte er unter anderem eine Passkopie von Ahmed B. vor.
"Nach einer sehr gründlichen Gesamtschau" lehnte die Wirecard-Bank die Anfrage ab - aus Compliance-Gründen. Entsprechende E-Mails der Bank gingen unter anderem an Jan Marsalek. Und dabei hatte dieser bei der Wirecard-Bank offiziell keine Funktion. Marsaleks Anwalt äußerte sich auf Anfrage nicht zu dem Themenkomplex.
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