Mit Putins Russland könne man nur aus einer Position der Stärke verhandeln. Das sei das Einzige, was der Kremlchef respektiere. Genau diesem Motto folgte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, als er – nach eigenen Worten – vor anderthalb Jahren seinen Geheimdienst mit der Planung und Durchführung der sogenannten "Operation Spinnennetz" beauftragt hatte. Er wollte vor aller Welt unter Beweis stellen, dass die Ukraine die militärischen und logistischen Fähigkeiten besitzt, um der Kriegsmaschinerie Moskaus weit im russischen Hinterland schweren Schaden zuzufügen.
Mit den spektakulären Drohnenangriffen, zeitgleich durchgeführt auf vier weit voneinander entfernte Militärbasen der russischen Langstreckenbomberflotte, signalisiert Selenskyj nicht allein Russland, sondern vor allem dem US-Präsidenten, dass sich die Ukraine sehr wohl gegen Putins Zerstörungs- und Unterwerfungskrieg erfolgreich wehren kann.
Genugtuung in Kiew
Wolodymyr Selenskyj, der am Sonntag in Kiew die "Operation Spinnennetz" mit seinem Kommandostab verfolgt hatte, sprach anschließend von einem "absolut brillanten Ergebnis". Ein Ergebnis, "das von der Ukraine unabhängig erzielt wurde". Es sei die bislang "weitreichendste Operation" gewesen. Nach Angaben des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU wurden mehr als 40 Flugzeuge getroffen: auf den Flugplätzen der Luftwaffenstützpunkt Belaja im russischen Gebiet Irkutsk, mehr als 4.000 Kilometer von der Ukraine entfernt, Olenja im russischen Gebiet Murmansk, Diaghilew im Gebiet Rjasan und Iwanowo im Gebiet Iwanowo. Darunter befänden sich die Luftaufklärungsmaschinen vom Typ A-50 sowie die strategischen Langstreckenbomber vom Typ Tu-95 und Tu-22 M3.
Mit der Operation seien Schäden in Höhe von "etwa sieben Milliarden Dollar und 34 Prozent der Marschflugkörperträger auf wichtigen russischen Luftwaffenstützpunkten außer Gefecht gesetzt" worden. "Wir haben gesehen, wie mindestens vier TU-95-Flugzeuge Feuer fingen", analysiert der ukrainische Luftfahrtexperte Valeriy Romanenko.
Fast alle Angriffe russischer Langstreckenbomber (95 Prozent) auf ukrainische Städte, von denen "Marschflugkörper vom Typ Kh-101 abgefeuert wurden, wurden von diesem Flugzeugtyp durchgeführt", so Romanenko gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Damit sei die "wichtigste und aktivste Komponente der russischen strategischen Bomberflotte also jetzt außer Gefecht gesetzt oder zerstört oder beschädigt" worden.
Washington wurde überrascht
Das Weiße Haus sei nicht vorab von den Drohnenangriffen auf die russischen Luftwaffenbasen informiert worden, erklärte ein ukrainischer Regierungssprecher. Mit der erfolgreichen "Operation Spinnennetz" dürfte Präsident Selenskyj dem wankelmütigen Donald Trump bewiesen haben, dass die Ukraine in der militärischen Lage ist, unter der Nase des russischen Geheimdienstes anderthalb Jahre lang dieses "brillante Beispiel an Kreativität und Entschlossenheit" zu realisieren, wie das "Wall Street Journal" kommentiert.
Trumps Vize-Präsident J.D. Vance würde gerne behaupten, dass die Ukraine den Krieg mit Russland nicht gewinne und die USA deshalb ihre Militärhilfe einstellen sollten. Die Drohnenangriffe, so das "Wall Street Journal" weiter, würden zwar nicht den Kriegsverlauf verändern, "doch sie zeigen die Fähigkeit der Ukraine, Ziele weit im russischen Hinterland attackieren zu können."
Präsident Trump hatte noch bei der berühmt-berüchtigten Auseinandersetzung im Oval Office Ende Februar dem ukrainischen Präsidenten vorgehalten, Selenskyj müsse gegenüber Amerika dankbar sein, denn er habe "nicht die nötigen Karten" ("you don’t have the cards"), um selbstbewusst auf den ukrainischen Sicherheitsinteressen zu bestehen. Das dürfte wohl ein voreiliger Ausspruch Trumps gewesen sein. Die Karten der Ukraine haben sich verbessert.
Karte zeigt Angriffsorte der "Operation Spinnennetz"
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