Mitten in Berlin ragen sie in den Himmel: 2.711 Betonstelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Für viele Schulklassen ist es ein Lernort, für die Gesellschaft eine Mahnung: "Nie wieder."
Doch das gegenwärtige Bild prägen auch Ausgrenzung und Bedrohung von Jüdinnen und Juden in Deutschland: "Es fühlt sich auch für mich an wie so eine Schlinge, die sich langsam einfach zuzieht, langsam, aber es wird immer enger und es gibt einfach immer mehr Räume, die man meiden muss" – so schildert eine Jüdin die aktuelle Situation in einer neuen Studie.
Der 7. Oktober und die Folgen: Ausgrenzung und antisemitische Vorfälle
Die vom Bund geförderte Studie zu den Auswirkungen des terroristischen Anschlags am 7. Oktober 2023 auf jüdische und israelische Communitys in Deutschland zeigt: Ausgrenzung und Anfeindungen sind für Juden Alltag – im öffentlichen Nahverkehr, in Schulen, Universitäten, am Arbeitsplatz oder beim Arzt. Die Folgen: Jüdische Menschen fühlen sich alleingelassen, benachteiligt, leiden an Depressionen, Panikattacken oder Angstzuständen. Über 110 Jüdinnen und Juden wurden für die qualitative Studie befragt. Viele geben an, ihre Identität zu verbergen oder sich zurückzuziehen.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, warnt: Das Gefühl, sich als Jude unsichtbar machen zu müssen, erinnere "an die dunkelsten Geschichtszeiten der deutschen Geschichte. Die Mahnungen eines 'Nie Wieders' verhallen offensichtlich ohne Konsequenz". Er verweist auf die "explosionsartigen" Anstiege antisemitischer Vorfälle. Laut der Meldestelle RIAS gab es 2024 bundesweit 8.627 antisemitische Vorfälle – ein Anstieg um 77 Prozent. In Bayern registrierte RIAS 1.515 Fälle, rund doppelt so viele wie im Jahr davor.
Die Unabhängige Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes Ferda Ataman fordert, Lücken im Recht zu schließen. So seien israelische Staatsangehörige durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bislang nicht ausreichend vor Diskriminierung im Alltag geschützt. Es ist nicht das erste Mal, dass Ataman das fordert. Seit Jahren stellt sie Studien und Zahlen vor, die einen steigenden Antisemitismus belegen. Doch was tut die aktuelle Regierung?
Was tut die neue Regierung gegen Antisemitismus?
Kanzler Friedrich Merz (CDU) kämpfte zuletzt bei der Wiedereröffnung der Münchner Synagoge mit den Tränen – er sei entsetzt, dass Antisemitismus in Deutschland wieder aufflamme. "Nie wieder" verstehe er als Auftrag, Pflicht und Versprechen. Die Regierung werde alles tun, damit Juden in Deutschland ohne Angst leben können.
Im Koalitionsvertrag von CDU und SPD ist Antisemitismus mehrfach Thema. Der Tatbestand der Volksverhetzung soll verschärft und antisemitische Hetze so intensiver verfolgt werden. Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU), die erste jüdische Ministerin in Deutschland, will etwa im Programm "Demokratie leben" gezielt Projekte gegen Extremismus fördern. "Wir haben stark angewachsenen Antisemitismus", betonte sie kürzlich im BR24-Interview.
Ein weiteres Signal: Die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem plant erstmals ein Bildungszentrum außerhalb Israels – und zwar in Deutschland. Bayern ist nach einer Machbarkeitsstudie als Standort im Gespräch.
Hochschulen im Blick
Auch an Universitäten wächst der Druck, Antisemitismus konsequent zu bekämpfen. Das Bundesforschungsministerium unter Dorothee Bär (CSU) fördert das Kompetenznetzwerk Hochschulische Antisemitismusprävention mit 625.000 Euro über drei Jahre. "Wir brauchen Sicherheit für jüdischen Studentinnen und Studenten und Forschende in Deutschland, wir stehen an ihrer Seite", so Bär. Eine Schnellbefragung des Ministeriums aus dem Frühjahr zeigt: 85 Prozent der Hochschulen haben Anlaufstellen gegen Antisemitismus eingerichtet, zwei Drittel bieten Veranstaltungen wie Diskussionen oder Ausstellungen an.
Programme, Gesetze, Förderungen – einiges ist umgesetzt, vieles ist angekündigt. Doch reicht das? Für Josef Schuster vom Zentralrat der Juden ist klar, dass es auch auf die Gesellschaft ankommt: "Jeder einzelne Bürger ist gefordert, Empathie und Zivilcourage zu zeigen, nicht zu schweigen, sondern aufzustehen, wenn die gesellschaftliche Teilhabe von Bürgern gefährdet ist." Die Studie, deren Abschlussbericht 2026 erscheint, macht schon jetzt deutlich: Antisemitismus ist keine Bedrohung der Vergangenheit, sondern eine Realität in Deutschland.
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