Es ist diese eine Szene, eine Stunde nach Beginn der Netflix-Doku "Babo - die Haftbefehl-Story", die Gänsehaut auslöst. Darin führt Aykut Anhan aka Rapper Haftbefehl die Kamera zu einem gerahmten Familienporträt in seiner Wohnung. Auf dem Foto blickt er freundlich in die Kamera, seine zwei lachenden Kinder sitzen auf seinem Schoß. Ein glücklicher Moment.
In der Gegenwart jedoch wirkt Haftbefehl nicht glücklich. Er ist allein und sichtlich benebelt. Lehnt zusammengesackt neben dem Bild an der Wand, hat die Kapuze seines Hoodies tief ins verschwitzte Gesicht geschoben und starrt auf das Display seines Handys. Dort ertönt ein Lied von Reinhard Mey und der Rapper nuschelt mit kratziger Stimme den Songtext: "In meinem Garten, in meinem Garten / Blühte blau der Rittersporn / Zwischen dem Unkraut, in meinem Garten / Im Geröll in meinem Garten / Wo die anderen Blumen verdorr'n."
Hier wird nichts verborgen
Erschütternd, fast unheimlich wirkt diese Szene. Und sie steht exemplarisch für die ganze Doku: Ein Film, der nichts verbirgt, in den intimsten Momenten einfach draufhält – auf den relevantesten deutschen Rapper und seine Dämonen. Authentisch, ungefiltert, zeitweise poetisch. Eben wie die Musik von Haftbefehl.
Elyas M’Barek hat die Doku produziert. Regie geführt haben Sinan Sevinç und der Spiegel-Journalist Juan Moreno. Über zwei Jahre haben sie Aykut Anhan mit der Kamera begleitet, von 2022 bis Ende 2024. "Du hast mich in all der Zeit nie gebeten, die Kamera auszumachen. Warum?", wird Anhan in einer Szene gefragt. "Warum lügen? Das ist die Wahrheit", antwortet Haftbefehl. 'Die Wahrheit', das bedeutet: Tourabsagen, betrunkene Auftritte, fahrlässiges Verhalten.
Ein Suchtkranker, gefangen zwischen zwei Welten
Die Doku setzt auf szenisches Storytelling mit Interviews, in denen die Protagonisten das Gezeigte nacherzählen oder kommentieren. Zu Wort kommen Menschen, die Aykut Anhan nahestehen: seine Brüder Cem und Aytac, seine Frau Nina, Freunde, andere Rapper, Labelchefs.
Ihre Interviews zeigen vor allem eins: Wie es ist, mit einer suchtkranken Person zu arbeiten, jemanden zu lieben, der gefangen ist zwischen zwei Welten. Auch Aykut Anhan selbst wird interviewt. Er erzählt, wie sein Vater sich das Leben nahm, als er 14 Jahre alt war. Wie er die Schule abgebrochen und mit dem Drogenkonsum begonnen hat. Sich nach einer roughen Jugend zum Rapstar hochgearbeitet hat. Doch auch heute müsse er sich noch regelmäßig tagelang aus dem Verkehr ziehen, um high zu sein und damit der Realität zu entfliehen. Sein Aufwachsen hätte er nicht gut verkraftet, seine Kindheit nie aufarbeiten können, bestätigen auch seine Brüder und seine Frau.
Aykut Anhan vs. Haftbefehl
Im Track "1999: Pt. 5" rappt der Künstler: "Kein Wunder, dass ich mich schizophren verhalte". Und so erzählt es auch die Doku. Auf der einen Seite Aykut Anhan, der zwei-fache Familienvater, der 2016 die Liebe seines Lebens geheiratet hat und in einem Einfamilienhaus wohnt. Auf der anderen Seite: Musiker Haftbefehl, der Junkie in Lebensgefahr.
Texte wie "Ja, ich bin ciao im Brain / Drauf seitdem ich dreizehn bin" oder "Ich brauch’ literweise Scotch / Nicht nur ein paar Whiskytropfen / Damit ich lieben kann" sind aus dem Leben gegriffen. Haftbefehl erzählt von Drogen, Kriminalität, Gewalt und dem Kampf mit dem eigenen Selbst. Für viele ist er deswegen der Inbegriff für HipHop, wie er ursprünglich in den USA entstanden ist: Als Sprachrohr für die Straße, für Menschen, die sozial benachteiligt sind, die auf Ungerechtigkeiten hinweisen und von ihrer harten Lebensrealität erzählen.
Respekt vor so viel Ehrlichkeit
Die Doku erzählt, dass Haftbefehl sich lange nicht helfen ließ. Nicht von seiner Familie, nicht von seinen Brüdern, nicht von seinem Label. Erst ein mehr oder weniger erzwungener Aufenthalt in einer Klink in Istanbul bringt ein wenig Verbesserung.
Aykut Anhan wollte diese Doku. Insofern: Respekt vor seiner Ehrlichkeit. Und doch bleiben am Ende Fragen: Wird er die Kurve kriegen? Wird er sich wieder helfen lassen, wenn es hart auf hart kommen sollte? Und so bleiben neben Reinhard Mey nur die Worte eines anderen deutschen Liedermachers: Rio Reiser. Mach kaputt, was dich kaputt macht!
"Babo – die Haftbefehl-Story" ist ab dem 28. Oktober auf Netflix zu sehen
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