Der israelische Schriftsteler Dror Misahni
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"Wir bringen Gaza über uns zum Einsturz", schreibt der israelische Schriftsteler Dror Misahni

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"Fenster ohne Aussicht": Tagebuch aus einem kaputten Land

"Fenster ohne Aussicht": Tagebuch aus einem kaputten Land

Eigentlich schreibt der israelische Autor Dror Mishani gefeierte Krimis. Sein neuestes Werk ist ein Tagebuch aus Tel Aviv seit dem 7. Oktober und dem folgenden Krieg in Gaza. Er meint: "Wir werden nicht von diesem Krieg genesen."

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Kulturleben am .

Er habe angefangen, Kriminalromane zu schreiben, "um die Wahrheit menschlicher Gewalt zu dokumentieren und den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen", erklärt der Schriftsteller Dror Mishani in seinem jüngsten Buch. Mit seiner Krimi-Reihe um Kommissar Avi Avraham erreicht der Schriftsteller ein Lesepublikum weit über die Grenzen seines Heimatlandes Israel hinaus.

Bei seinem neuen Werk handelt es sich allerdings nicht um einen Kriminalroman. Mishani war gerade auf einem Literaturfestival in Toulouse zu Gast, als Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen. An diesem "schwarzen Schabbat" setzt Dror Mishanis "Fenster ohne Aussicht" ein: ein "Tagebuch aus Tel Aviv" in Zeiten des Gaza-Kriegs.

Ein verzweifeltes Buch

Der Titel ist einerseits symbolisch zu verstehen, andererseits bezeichnet er auch ein ganz konkretes Fenster, nämlich das von Dror Mishanis Arbeitszimmer, das ihm eine Art Anti-Aussicht bietet. Denn der Blick von dort geht auf die heruntergekommene Rückseite des israelischen Museums der Unabhängigkeit, das in einem Gebäude beheimatet ist, in dem am 14. Mai 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde. Der Bau wird seit einigen Jahren saniert und musste dazu entkernt werden.

Übriggeblieben ist vorerst nur ein Gerippe. Als Mishani nun aus dem Fenster schaut, wird im schlagartig klar: "Die Ruine, die mal das Museum der Unabhängigkeit war", ist ein Sinnbild der Situation, in der sich Israel derzeit befindet: ein kaputtes Land in aussichtsloser Lage. Oder, wie Mishani an anderer Stelle schreibt: "Wir werden nicht von diesem Krieg genesen."

"Fenster ohne Aussicht" ist ein stellenweise verzweifeltes Buch, aber vor allem ein zweifelndes. Und darin auch eines, das im Zweifel Haltung sucht und findet: "Nichts rechtfertigt das furchtbare Morden am 7. Oktober, aber ich denke, was wir vorher getan haben und auch jetzt noch tun, hilft uns ganz bestimmt nicht, die nächste Katastrophe zu verhindern. Und die Grausamkeit der Hamas am Schwarzen Schabbat rechtfertigt nicht retroaktiv die langen Jahre drakonischer Kontrollen über das Leben der Palästinenser."

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"Fenster ohne Aussicht" von Dror Mishani

Zielscheibe von Hetzkampagnen

Es ist eine wohltuende Stimme der Mäßigung und Vernunft, die sich hier artikuliert, und der man im Nahost-Konflikt mehr Gehör wünschen würde. Allerdings kommt Skepsis gegenüber der Politik der israelischen Regierung in Mishanis Heimat nicht bei allen gut an. In seinem Tagebuch berichtet er von einer "Jagd auf Intellektuelle", die "das Massaker angeblich nicht verurteilt oder behauptet haben, es müsse in einem Kontext gesehen werden". So wie er sich positioniert, zählt Mishani selbst zu den potentiellen Zielscheiben solcher Hetzkampagnen.

"Fenster ohne Aussicht" gibt auf eindringliche Weise Einblicke in eine Gesellschaft, durch die ein Riss geht, der bis zu Diskussionen mit der Teenager-Tochter reicht, die ihm gegenüber regierungskonform argumentiert.

"Wir bringen Gaza über uns zum Einsturz"

Mishani sucht Zuflucht zur Literatur, fragt sich aber auch, ob er jemals wieder dazu imstande sein wird, einen Krimi zu Papier zu bringen. Er, der schreibend menschliche Gewalt verstehen lernen wollte, notiert nun: "Was habe ich denn gewusst über das Böse und die Gewalt?" Insofern scheint ihm sein ganzes literarisches Schreiben sinnlos, ja Literatur ganz allgemein. Dennoch liest er weiter. Über den Trojanischen Krieg oder auch in der Bibel. Und findet dabei immer wieder Erkenntnisstiftendes.

Zum Beispiel die Geschichte von Simson, der in auswegloser Situation beschließt, seine Feinde mit in den Untergang zu reißen, wozu er mit den Worten "Meine Seele sterbe mit den Philistern" ein Haus zum Einsturz bringt. Mishani merkt dazu an: "Ist das nicht exakt, was wir gerade tun? Wir bringen Gaza über uns zum Einsturz, stürzen gemeinsam mit Gaza ein? Und ist es nicht im Grunde genommen, was auch sie tun – die Palästinenser versuchen, unsere Häuser zum Einsturz zu bringen, und brechen gemeinsam mit uns unter den Trümmern zusammen?"

So hilft ihm Lektüre ein ums andere Mal, die Lage zu durchschauen. Nach und nach revidiert Mishani sein Urteil, Literatur sei sinnlos und stellt im Gegenteil fest: "Der Geschmack der Literatur ist jetzt stärker denn je."

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