Kleine Ursache, große Wirkung: Mit einer nebensächlichen und inhaltlich lapidaren Bemerkung in einer TV-Dokumentation löste Wladimir Putin eine mutmaßlich unerwünschte Nachfolge-Diskussion aus. Gefragt, "wie es nach ihm weitergehe", verwies der russische Präsident darauf (externer Link), dass die Entscheidung letztlich bei den Wählern liege.
"Eine Person, die nicht das Vertrauen der Bevölkerung genießt, hat kaum eine Chance, etwas Ernsthaftes zu bewirken. Das ist absolut grundlegend", so Putin: "Wenn ich also darüber nachdenke – und ich denke ständig darüber nach –, denke ich natürlich daran, dass sich eine oder besser noch mehrere Personen finden müssen, die dieses Vertrauen der Bürger des Landes gewinnen können, damit die Menschen eine Wahl haben."
"Jetzt beginnt der Lärm"
Das wichtigste Wort in dem Zitat sei "finden müssen", so Dmitri Drise (externer Link), der Kolumnist vom liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant": "Das heißt, heute gibt es offenbar keine geeigneten Kandidaten und es ist nicht ganz klar, wann sie erscheinen werden. Jetzt eindeutig nicht."
Propagandist Sergei Markow behauptete: "Jetzt beginnt der Lärm: Wird Putin gehen? Ich antworte: Das hat er nicht vor. Der Grund für das Thema Nachfolge liegt in der Thematik der Doku: Es geht darin um eine Bilanz nach 25 Jahren Amtszeit, und Teil davon ist die langfristige Sicherung des politischen Kurses von Wladimir Putin. Natürlich denkt er darüber nach, wie er die Fortsetzung seines politischen Kurses sicherstellen kann."
Wollte Putin "Friedenspartei verunsichern"?
Der kremlkritische Politologe Anatoli Nesmijan schrieb (externer Link): "In Byzanz gibt es keine Nachfolger. Der Herrscher regiert entweder bis zu seinem Tod oder bis zu einem erfolgreichen Palastputsch. Alles andere, so hieß es, sei 'vom Bösen'." In asiatischen Despotien werde die Macht als Eigentum begriffen.
BR24
Polit-Blogger Maxim Scharow vermutete (externer Link), dass Putin die Ambitionen allzu ehrgeiziger Kreml-Funktionäre bremsen wollte: "Putins aktuelle, die Fantasie anregende Andeutung über 'mehrere Nachfolger' und einen 'Wettbewerb zwischen ihnen' zielt daher darauf ab, die 'Friedenspartei' zu verunsichern, die sich ernsthaft darauf vorbereitet, die öffentliche Meinung in den kommenden Tagen zugunsten eines 'Waffenstillstands' zu beeinflussen." Das "Kakerlakenrennen" zeige, dass der Kreml derzeit mit völlig anderen Themen beschäftigt sei als die Bevölkerung.
"Wettbewerb beginnt"
Putins Äußerung sei der "Beginn eines langen Spiels, in dem das Wort 'Machtübergabe' kein Tabu mehr sei und sich in ein handhabbares Konstrukt verwandle", so ein Kommentar auf einem der größten Telegram-Kanäle mit 415.000 Fans (externer Link): "Innerhalb des Systems kann diese Botschaft eine subtile Neuordnung der zugewiesenen Rollen wichtiger Akteure auslösen. Der Wettbewerb beginnt – allerdings nicht im öffentlichen Raum, sondern diszipliniert hinter den Kulissen. Und zwar unter der Schirmherrschaft des Staatsoberhauptes, das selbst die Spielregeln bestimmt." Dabei sei der Zeitpunkt wichtig. Putin setze "erst auf Sieg, dann auf Neuerungen".
Andere Blogs verbreiteten bereits Top-Ten-Listen von möglichen Putin-Nachfolgern (externer Link), wobei Ministerpräsident Michail Mischustin auf Platz eins kam, gefolgt von Gouverneur Alexei Djumin, der einst die Annexion der Krim überwachte, und Innenpolitiker und Präsidenten-Berater Sergei Kirijenko. Dahinter behauptet sich Putins Nachfolger und Vorgänger im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, der als rabiater Propagandist für Schlagzeilen sorgt.
"Erinnert an sowjetische Mottenkugeln"
"Putin verspürt vermutlich den Wunsch, die Stagnation seines Regimes zu überwinden. Übrigens wurde ein ähnlicher Wunsch von Stalin im Oktober 1952 geäußert", so eines der wichtigsten Polit-Portale (externer Link). Tatsächlich hatte Stalin damals mit einem Rücktritt kokettiert ("Ich bin schon alt und lese keine Zeitungen mehr"), nur um sich umso mehr rühmen zu lassen. Die zivilen und militärischen Spitzen seien in Russland "stark zersplittert und einander nicht loyal", so der Blogger, was einen Konsens über einen Nachfolger sehr erschweren werde. So habe Ministerpräsident Mischustin vor allem Gegner im Militär und bei den Geheimdiensten.
Russische Leser spotteten (externer Link) : "Wie mich das alles an sowjetische Mottenkugeln erinnert." Jemand schlug vor, "per Verordnung" einen Nachfolger zu ernennen, denn freiwillig werde niemand die Hand heben. Oder auch: "Ein normaler Mensch mit klarem Verstand hätte sich nicht all diesen Ärger angetan, der nach dem Zusammenbruch der UdSSR geschehen ist, und ein Verrückter wird nicht wollen, weil Russland fast der gesamte Profit wieder entzogen wurde."
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