"Sirāt" ist arabisch und meint die Brücke zwischen Himmel und Hölle. Die Toten müssen sie überqueren, um ins Paradies zu gelangen. Jedoch heißt es, diese Brücke sei so dünn wie ein Haar und so scharf wie ein Schwert. Ein zweischneidiges Schwert ist auch die Sub-, beziehungsweise Rave-Kultur. Von deren Licht- und Schattenseiten der Film "Sirāt" handelt.
Ein Rave in der Wüste Marokkos
Im Zentrum der Handlung des Films von Regisseur Óliver Laxe stehen Familienvater Luis (Sergi López), der seine Tochter auf einem Rave in Marokko sucht, und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez). Beide haben seit fünf Monaten nichts von ihr gehört. In Marokko freunden sich Luis und Esteban mit einer Gruppe Ravern an, Aussteiger, die nichts mehr wissen wollen von Wettbewerb oder Leistungsgesellschaft und sich stattdessen der Ekstase hingeben. Die hedonistischen Raver wollen noch auf eine zweite Party, weiter im Süden, kurz vor der mauretanischen Grenze. Und wer weiß, vielleicht ist die verloren-geglaubte Tochter von Luis ja auch dort? Also schließen sich Vater und Sohn den Ravern an.
Raver-Kultur bedeutet auch Solidarität
Bevor "Sirāt" kritisch wird, zeigt der Film, was eine Subkultur auszeichnet. Radikale Empathie! Was auch bedeutet, dass alle, die sich nicht von Gesichts-Tattoos, Irokesen und Lippenpiercings abschrecken lassen, herzlich integriert werden. Den Aussteigern liegt nichts ferner als eine Ellenbogen-Mentalität. Sie helfen Luis und Esteban, Solidarität wird großgeschrieben, die Mahlzeiten so rationiert, dass für jeden etwas übrigbleibt. "Sirāt" ist trotz der Solidarität aber kein Feelgoodmovie. Denn als sie das Autoradio anschalten, erfahren sie, dass der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.
Ein Rave auf dem Vulkan
Und so wird der Film, der in Cannes den Preis der Jury gewonnen hat, zum Rave auf dem Vulkan. Der Techno-Soundtrack des französischen Künstlers Kangdin Ray (Link extern) lässt selbst die gigantischen Felsen der marokkanischen Wüste vibrieren. Ist das Ende der Welt gekommen? Ach was, die Welt geht doch schon seit mehreren Jahren unter, meint ein Raver. Und so fahren sie weiter in den Süden, auf der Jagd nach dem einen, letzten Rave.
"Sirāt" ist nichts für Herzpatienten
In der zweiten Hälfte des Films schafft Regisseur Óliver Laxe in "Sirāt" urplötzlich und unkommentiert Szenen von unfassbarer Brutalität. Weshalb "Sirāt" in einem Finale mündet, das Patienten mit Herz- oder Nervenschwäche lieber nicht im Kino anschauen sollten. Wenn es um Leben und Tod geht, hilft nämlich auch Subversivität nichts mehr. Die Raver in "Sirāt" entscheiden sich, die politische Krise zu ignorieren, sich stattdessen dem Eskapismus hinzugeben. Was ihnen zum Verhängnis wird.
Kultur muss hier politisch sein
Gemäß "Sirāt" ist eine Subkultur, die so hermetisch ist, dass sie die Außenwelt nicht mehr hereinlässt, dem Untergang geweiht. Selbst im tiefsten Nirgendwo der marokkanischen Wüste kann man der Apokalypse nicht entfliehen. Auch Raver müssen sich der politischen Realität am Ende stellen. In Zeiten, in denen sich auch in der realen Welt viele fragen, ob sie angesichts des Rechtsrucks gehen oder bleiben sollen, ist "Sirāt" ein Plädoyer für das Bleiben.
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