Placebos sind Scheinmedikamente. Sie wirken sogar, wenn die Person weiß, dass sie ein Placebo einnimmt.
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Placebos sind Scheinmedikamente. Sie wirken sogar, wenn die Person weiß, dass sie ein Placebo einnimmt.

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Placebos wirken auch bei bewusster Einnahme

Placebos wirken auch bei bewusster Einnahme

Bei manchen Krankheiten helfen sie wirklich: Scheinmedikamente. Neu ist, dass sie auch dann wirken, wenn der Betroffene weiß, dass er eine Arznei ohne Wirkstoff einnimmt. Am besten sind "Open-Label-Placebos" bisher in der Schmerzmedizin erforscht.

Über dieses Thema berichtet: Radiowissen am .

An einer Studie in Berlin, deren Ergebnisse am 12. September 2024 im Fachblatt Nature (externer Link) veröffentlicht wurden, nahmen 57 übergewichtige Personen teil. Alle trieben während der Studie Sport und verzichteten auf Fast-Food. Die Hälfte der Gruppe bekam kein Medikament. Die andere Hälfte nahm zwei Placebo-Tabletten pro Tag ein.

Diesen Probanden sagte man, es handle sich um eine Scheinarznei ohne Wirkstoff. Trotzdem halfen die Tabletten ihnen beim Abnehmen, weil sie weniger Appetit hatten: Nach vier Wochen verloren sie im Schnitt 2,2 Kilogramm. In der Gruppe ohne Placebo sank das Gewicht nur um 1,2 Kilogramm.

Ted Kaptchuk: Pionier der Open-Label-Placebos

Der Mediziner Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School in den USA war der erste Mediziner, der in einer Studie aus dem Jahr 2010 belegen konnte, dass auch offen verabreichte Placebos wirken. Patientinnen und Patienten mit schwerer Reizdarmsymptomatik gaben nach dreiwöchiger Placebo-Einnahme an, dass sich ihre Symptome merklich gebessert haben.

Bei einer Untersuchung aus dem Jahr 2020 mit 100 Frauen in den Wechseljahren kam das Team um Ted Kaptchuk zu dem Schluss, dass Open-Label-Placebos eine "sichere und langfristig wirksame Behandlung von Hitzewallungen bei betroffenen Frauen darstellen".

Placebos helfen bei Schmerzen besonders gut

Placebos sind bei chronischen Schmerzen bislang am besten erforscht. "Wir wissen bei Schmerzen, dass durch positive Erwartung die gesamte Schmerzleitung im Gehirn und sogar im Rückenmark verändert wird", sagt die Neurologin und Schmerztherapeutin Ulrike Bingel (Universität Essen).

Weniger schmerzhafte Impulse erreichen das Gehirn. Außerdem werden körpereigene Botenstoffe wie endogene Opioide, Endorphine und auch Dopamin ausgeschüttet. "Placebos aktivieren letztendlich Ihre körpereigene Apotheke", so Bingel.

Die Wirkung offener Placebos gibt noch Rätsel auf

Ulrike Bingel möchte die offene Placebo-Forschung in Deutschland vorantreiben. Anfangs war sie skeptisch, ob sie dafür Probanden finden würde: "Ich dachte, sie erwarten von mir in einem Referenzzentrum für Schmerzmedizin etwas anderes. Aber da habe ich mich getäuscht. Ein Teil der Patienten ist offen und profitiert auch davon." Grundsätzlich ist auch möglich, Open-Label-Placebos zu verschreiben, wenn Patientinnen das wünschen.

Noch ist nicht ganz klar, warum auch offene Placebos wirken. Es muss mehr sein, als die Hoffnung auf Heilung, meint Ulrike Bingel: "Wir haben in diesen Studien vorher die Erwartungshaltung gemessen und die korreliert wenig oder gar nicht mit dem, was hinterher passiert. Es müssen wohl auch andere psychologische Prozesse über die Zeit angestoßen werden, die wir noch nicht genau verstehen."

Auch offene Placebos unterstützen die Selbstheilungskräfte

Die Neurologin beobachtet, dass Placebos vor allem in den Bereichen helfen, die natürlichen Schwankungen unterliegen. Schmerzen beispielsweise kommen und gehen. Auch Depressionen sind nicht immer gleich. Eine Pille ohne Wirkstoff kann den Körper günstig stimmen und die gute Phase – die auch dank Selbstheilungskräften immer wieder eintritt – verlängern oder sogar stabilisieren.

Der Münchner Schmerzmediziner Dominik Irnich: "Das sind spannende Vorgänge. Man weiß, man nimmt nur ein Placebo, aber es wirkt trotzdem. Das könnte auch ein Mechanismus der Konditionierung sein, ähnlich wie beim Pawlowschen Hund." Bei ihm reicht der Klang der Glocke, um den Speichelfluss anzuregen. In der Placebo-Forschung reicht ein Scheinmedikament, um gesundmachende Prozesse im Körper anzustoßen.

Placebos helfen auch bei Wunden, Schlafstörungen und Ängsten

Open Label Placebos wirken auch noch in anderen Bereichen: Wer auf eine Wunde eine Salbe ohne Wirkstoff aufträgt, bei dem heilt die Wunde schneller als ohne Salbe. Außerdem helfen Open Label Placebos nachweislich bei Schlafstörungen, Müdigkeit und gegen Prüfungsangst.

Eine Untersuchung, die am 20. März 2024 im Fachblatt Nature (externer Link) veröffentlicht wurde, legt nahe, dass Fahrschülerinnen und Fahrschüler weniger Angst vor der Fahrprüfung haben, wenn sie wissentlich ein Scheinmedikament einnehmen. Zudem schneiden sie erfolgreicher ab: 70 Prozent bestanden die Prüfung. In der Gruppe ohne Placebos war nur die Hälfte erfolgreich. Scheinmedikamente mit tollem Effekt – aber garantiert ohne Risiken und Nebenwirkungen.

Im Video: aktiv und gesund – Placebos gegen Schmerzen

Junger Mann mit Schmerzen fasst sich an den Kopf
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Junger Mann mit Kopfschmerzen

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