Wenn Lokführer Michael Schmidt von seinem Berufsalltag erzählt, kommen Erinnerungen hoch, die einem Alptraum gleichen. Seit 13 Jahren steuert er Züge und erlebt dabei regelmäßig Menschen, die unerlaubt auf Gleisen unterwegs sind. "Einmal war es eine Mutter mit dem Kinderwagen. Wenn da schlechte Schienen gewesen wären, hätte ich die mit ihrem Baby erwischt", erzählt Schmidt in Kontrovers - Die Story.
"Das ist eine reine Unterschätzung der Gefahren"
Personen im Gleis gehören für Lokführer zum Alltag und lösen doch jedes Mal enormen Stress aus. Denn bis ein Zug zum Stehen kommt, hat er ein bis zwei Kilometer Bremsweg vor sich. Eine Situation der Hilflosigkeit, mit der Lokführer immer häufiger konfrontiert werden. "Das ist eine reine Unterschätzung der Gefahren und Überschätzung von sich selbst", sagt Sina Dietsch, Sprecherin der Bundespolizei München.
Im Video: Kontrovers - Die Story: Personen im Gleis - Lebensgefahr beim Abkürzen, bei Mutproben oder Trainsurfen
Personen im Gleis verursachen oftmals Bahnchaos
Allein im Jahr 2024 hat die Deutsche Bahn deutschlandweit 7.265 Meldungen über Personen im Gleis erfasst. Die meisten solcher Vorfälle gehen zwar glimpflich aus, verursachen oftmals aber trotzdem weitreichende Probleme. Denn sobald sich potenziell gefährliche Situationen durch Personen im Gleis ergeben, müssen Lokführer das melden. Die Folge: stundenlanges Chaos, Zugverspätungen und teure Polizeieinsätze. Im vergangenen Jahr wurden in diesem Zusammenhang deutschlandweit 3.960 Mal Gleise gesperrt – seit Jahren nehmen die Zahlen zu. Die Strafen für unerlaubtes Gleisüberqueren liegen je nach Schwere zwischen 25 und mehreren Tausend Euro.
Fotos und Videos auf Social Media animieren zum "Surfen" auf Zügen
Hinzu kommt ein gefährlicher Social-Media-Trend: Im Internet kursieren Fotos und Videos, in denen Nutzer einander anstacheln, auf Züge zu klettern oder darauf zu "surfen". Am Münchner Ostbahnhof ist im Mai ein 16-Jähriger von einem Güterwaggon ins Gleis gestürzt, nachdem er mit einem Freund in der Nacht auf den Zug geklettert war. Der Jugendliche verlor bei dem Unfall seinen Fuß.
Trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen, etwa der Deutschen Bahn und der Bundespolizei, gibt es immer wieder Einsätze wegen schwerer Stromunfälle durch Oberleitungen. Die Opfer werden meist lebensgefährlich oder tödlich verletzt.
Para-Radsportler Sacher: "Bin mit hohem Bogen vom Waggon geflogen"
Der bayerische Para-Radsportler Wolfgang Sacher hat einen solchen Unfall überlebt und hat seitdem eine Behinderung. Vor 42 Jahren kletterte er als Jugendlicher auf einen Zug. Mit Freunden sei er "wie früher die Cowboys" von einem Waggon auf den anderen gesprungen. "Ich habe dann beim Abspringen die linke Hand hochgenommen, sodass ich mit der Hand in das Spannungsfeld von der 16.000 Volt Leitung gekommen bin", erzählt Sacher in Kontrovers - Die Story. "Dann hat es nur geknallt, hat riesig geblitzt und ich bin mit einem hohen Bogen vom Waggon geflogen." Sacher erlitt schwerste Verbrennungen, musste unzählige Male operiert werden. Sein verbrannter linker Arm wurde amputiert.
Bahn-Sprecher: Komplett einzäunen weder finanzierbar noch sinnvoll
Wegen der vielen gefährlichen Situationen hat die Deutsche Bahn Teile ihres Schienennetzes eingezäunt, etwa die gesamte S-Bahn-Stammstrecke in München. Viel mehr könne die Bahn aber nicht tun. "Wir können nicht 33.000 Kilometer Streckennetz einzäunen", sagt Achim Stauß, DB-Sprecher. Das sei weder finanzierbar noch sinnvoll, da es auch Fluchtwege brauche.
Lokführer erleben zwei bis drei Personenunfälle
Lokführer Michael Schmidt ist froh über jede Maßnahme, die dafür sorgt, Menschen vom Gleis fernzuhalten. Denn er weiß, wie es ist, jemanden mit dem Zug zu erfassen. "Dann kommt eben diese Schnellbremsung und das Hoffen, dass du anhalten kannst", sagt er. Doch dieses eine Mal war es zu spät.
Lokführer Schmidt konnte den tödlichen Unfall psychisch verarbeiten, sagt er. Statistisch gesehen ist es aber nicht sein letzter: Im Schnitt erlebt ein Lokführer zwei bis drei solcher Tragödien in seinem Berufsleben.
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