"Können Sie uns alle sehen und hören?" Die digitale Gerichtsverhandlung am Nürnberger Landgericht beginnt wie jede andere Online-Besprechung auch: mit einem ersten Technik-Check. Der Richter sitzt wie immer an seinem Platz vorne im Gerichtssaal. Jedoch blickt er auf eine Teams-Schalte, anstatt auf einen Saal mit Menschen. Die drei am Fall beteiligten Anwälte sind aus Kanzleien in Berlin, Stuttgart und München zugeschaltet. Es geht um einen Streit bei der Installation einer Photovoltaikanlage.
Digitale Gerichtsverhandlungen inzwischen "Normalzustand"
Für Jens Rogler, Vorsitzender Richter am Landgericht Nürnberg-Fürth, sind digitale Gerichtsverhandlungen inzwischen der Normalzustand. Häufig fragen Anwälte beim Gericht an, ob die Verhandlung online stattfinden könne. "Wenn die technischen Kapazitäten vorhanden sind und der Fall geeignet ist, dann wird eine Videoverhandlung meistens gestattet", so Richter Jens Rogler. Die Beteiligten können per Video teilnehmen, müssen das aber nicht. Es besteht immer die Möglichkeit, auch noch persönlich im Sitzungssaal zu sein.
Knapp 30 Prozent aller Gerichtssäle mit Videokonferenzanlagen
Inzwischen haben alle Gerichte in Bayern den Zugang zu einer oder mehreren Videokonferenzanlagen, heißt es aus dem bayerischen Justizministerium auf Anfrage von BR24. Von derzeit rund 700 Gerichtssälen in Bayern seien nun etwa 200 mit Videokonferenzanlagen ausgestattet, also knapp 30 Prozent. Das Ministerium hat im Rahmen seiner "Digital-Offensive" rund 47 Millionen Euro in die Modernisierung der Gerichtssäle investiert. Davon allein 7 Millionen Euro in die Ausstattung mit Videokonferenzanlagen.
18.000 digitale Gerichtsverhandlungen in 2024
Dementsprechend sei auch die Anzahl der Videoverhandlungen und -anhörungen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, so der bayerische Justizminister Georg Eisenreich. Inzwischen sind dem Justizminister zufolge über 55.000 Videoverhandlungen und Anhörungen durchgeführt worden, allein im letzten Jahr etwa 18.000. Dieses Jahr wurden in Bayern bis Juni schon rund 10.000 Verhandlungen und Anhörungen digital durchgeführt, vor allem in Zivilprozessen. Das Bayerische Justizministerium geht davon aus, dass diese Zahl in den nächsten Jahren noch deutlich steigen wird.
Weniger Kosten und flexiblere Verfahren
Die "Digital-Offensive" zahlt sich vor allem für Mandantinnen und Mandanten sowie Anwältinnen und Anwälte aus. Termine können flexibler gelegt werden. Und niemand muss weit anreisen, etwa für einen sehr kurzen Gerichtstermin ins Flugzeug steigen. Auch Gefangene können aus Gefängnissen dazugeschaltet werden, sodass Gefangenentransporte wegfallen. "Wir sparen dadurch für unsere Mandanten Zeit, Geld und auch oftmals Nerven. Denn es ist immer einfacher vor einer Kamera zu sitzen, als direkt mit dem Gegner zu sprechen", so die Familienrechts-Anwältin Renate Maltry vom Deutschen Juristinnenbund.
Technikprobleme und Einschätzungen vor Ort
Doch: Nicht immer funktioniert die Technik so, wie sie soll. Und vor allem da, wo die Wahrnehmung mit allen Sinnen erforderlich ist, stößt die Videoübertragung an die Grenze, so Strafverteidigerin Michaela Landgraf vom Bayerischen Anwaltverband. "Sie können einen Zeugen in der Beweisaufnahme ganz anders einschätzen, wenn sie ihm persönlich gegenübersitzen, wenn sie ihn persönlich fragen können", so die Strafverteidigerin. Deshalb liegt die Entscheidung für oder gegen eine Online-Verhandlung auch letztendlich bei den zuständigen Richterinnen und Richtern.
Obwohl die digitalen Gerichtsverhandlungen in den letzten Jahren – und vor allem seit Corona – in Bayern immer mehr geworden sind: Analoge Verhandlungen und Anhörungen werden wohl nie ganz zu ersetzen sein.
Öffentlichkeit kann weiter anwesend sein
💬 Die BR24-User "Rbert" und "Pipipopo" haben sich in den Kommentarspalten gefragt, wie die Öffentlichkeit bei Online-Verhandlungen eingebunden wird und wo zum Beispiel die Schöffen sitzen. Das Team von "Dein Argument" hat ergänzt:
Der Öffentlichkeitsgrundsatz gilt auch bei Online-Verhandlungen. Interessierte können weiter im Gerichtssaal anwesend sein und zuschauen. So wie die Richter sitzen bei Schöffen-Verfahren auch Schöffen im Gerichtssaal. Solche Verfahren werden aber eher selten digital durchgeführt. Auch Mord-Verhandlungen werden derzeit nicht online durchgeführt. Wichtig ist: Die Richterinnen und Richter können bei allen Verhandlungen und Anhörungen entscheiden, ob die Verhandlung in Präsenz stattfinden soll. 💬
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!
