Momente wie dieser sind selten. Yaki Buchner und Ella Agur werden sich wohl ihr Leben lang daran erinnern. Sie sind aus Israel angereist und stehen jetzt auf dem KZ-Friedhof im schwäbischen Türkheim - genau 80 Jahre nach der Befreiung des Ortes durch die Alliierten: eine unscheinbare Lichtung, ein Gedenkstein mit Davidstern und den Worten "Wir mahnen", Grabsteine entlang eines gepflasterten Wegs zu einem Mausoleum. "Es tut mir leid, dass unsere Eltern nicht hier sein können, um das zu erleben", so Buchner, "denn es ist einfach überwältigend."
Nicht weit entfernt stand das KZ-Außenlager Türkheim, in dem Nazis ihre Großmutter Maria Balzam und bis zu 2.500 andere überwiegend jüdische Menschen eingesperrt und zur Arbeit gezwungen hatten. Kurz vor der Befreiung am 27. April 1945 schickten sie noch 1.000 von ihnen auf den Todesmarsch nach Dachau.
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Flucht dreier jüdischer Frauen
Zusammen mit zwei anderen jüdischen Frauen gelang Maria Balzam noch vor dem Todesmarsch die Flucht. Wie insgesamt 30 Nachfahren der Frauen hätten die beiden Israelis Yaki Buchner und Ella Agur nie gelebt, wenn ein Türkheimer Ehepaar nicht den Mut gehabt hätte, sie vor den Nazis zu verstecken. "Ohne Willi und Maria wären wir nicht hier", so Buchner. Dem Ehepaar Seitz wird an diesem Tag ein Denkmal gesetzt – der Anlass für Buchner und Agur, nach Deutschland zu reisen.
Der Journalist Achim Schregle hat sie in jahrelanger Recherche ausfindig gemacht. "Willi und Maria Seitz haben unglaubliche Courage bewiesen", so Schregle. Dass man in Türkheim nichts über die beiden gewusst habe, habe ihn gestört. Er habe einen Gedenkstein für sie gewollt. "Mir war klar: Wenn man das groß machen will, brauchen wir Nachfahren von diesen jüdischen Frauen." Für ihn geht an diesem Tag ein langes und aufwendiges Projekt zu Ende.
Gerechte unter den Völkern
Die beiden Enkel von Balzam atmen tief durch, viele Menschen sind an diesem denkwürdigen Tag gekommen: Journalistinnen, Politiker, alle möchten mit ihnen sprechen. Die Gruppe reist weiter zum Schlosspark vor dem Rathaus in Türkheim. Talya Lador-Fresher, die Generalkonsulin des Staates Israel in München, bezeichnet das Ehepaar Seitz in einer Videobotschaft auf der Gedenkfeier als Helden: "Sie haben ihr eigenes Leben und das ihrer Familie gefährdet, um anderen das Leben zu retten. Menschen wie Maria und Willi Seitz, die auch in dunklen Zeiten Menschen lieben, sind ein Vorbild für uns alle." Für ihr Engagement erhielt das Ehepaar Seitz die Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern" – die höchste Auszeichnung, die Israel an nicht-jüdische Menschen vergibt.
Neben der Generalkonsulin sind auch der Unterallgäuer Landrat Alex Eder (FW), der Türkheimer Bürgermeister Christian Kähler und Ludwig Spaenle (CSU) zur Gedenkfeier gekommen, Bayerns Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. "Das Ehepaar Seitz hat sich in einem der größten Abgründe, die es auf dieser Welt gab im deutschen Namen, todesmutig gezeigt, um Leben zu retten", erklärte er im Schlosspark. Mit Blick auf wachsenden Antisemitismus seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Krieg in Nahost kritisierte er, dass deutsche Staatsbürger angegangen und politisch in Mithaftung genommen würden für das, was in Israel geschehe, wenn sie als Juden erkannt würden.
Sorge vor wachsendem Antisemitismus
Auch Buchner und Agur blicken mit Sorge auf aktuelle Entwicklungen: "Wir haben keine Angst, aber wir passen sehr auf", erklärt Buchner. Er und seine Schwester haben eine gelbe Schleife angesteckt, ein Zeichen der Solidarität mit den von der Hamas entführten Geiseln. "Bei unserem Besuch in München", erzählt Agur, "haben wir sie lieber nicht getragen." Solange es aber Menschen wie das Ehepaar Seitz gebe, hätten sie Hoffnung. Sie sind beeindruckt von der medialen Aufmerksamkeit, den Reden, den rund 60 Gästen, die gekommen sind.
Buchner schaut auf den Stein. "Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam eine ganze Welt gerettet", steht da in deutscher und hebräischer Sprache - ein Vers aus dem Talmud, einem zentralen Werk des rabbinischen Judentums. "Das ist genau richtig", sagt Buchner. Er werde in dem Wissen nach Hause fliegen, dass es überall gute Menschen gebe, die die Erinnerung aufrechterhalten - an die Gräuel der Nazis und an Menschen wie Maria und Willi Seitz, die ihnen etwas entgegensetzten.
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