Eine palästinensische Mutter sitzt mit ihren zwei Töchtern in einer Flüchtlingsunterkunft
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Mutter und ihre Kinder, die beim "INCLUDE"-Projekt der TU München teilnehmen
Bildrechte: BR/ Anja Wahnschaffe
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Förderung und Therapie: Mehr Angebot für Flüchtlingskinder nötig

Förderung und Therapie: Mehr Angebot für Flüchtlingskinder nötig

Knapp 12.000 Kinder bis zu sechs Jahren leben in bayerischen Asylunterkünften. Laut Experten gibt es dort häufig zu wenig frühkindliche Bildungsangebote. Mögliche Folgen sind Entwicklungsverzögerungen. Frühe Förderung kann dem entgegenwirken.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Nah dran am .

Die achtjährige Manessa darf nächstes Schuljahr von der Förderschule in die zweite Klasse einer Grundschule wechseln – dank Logopädie und Musik- und Ergotherapie des Kinderzentrums im Klinikum Bezirk Oberbayern (KBO) in München/Schwabing.

Das syrische Mädchen hatte eine starke Sprachverzögerung. Diese ist einerseits genetisch bedingt, außerdem habe das Mädchen in Syrien einen schwierigen Start ins Leben gehabt, erzählt Mutter Fatima. Die Alleinerziehende musste viel arbeiten und konnte sich nur wenig um ihre Tochter kümmern. Die Folge: Manessa saß in ihrer frühen Kindheit zu viel vor dem Fernseher. Dann – angekommen in Bayern – musste sie lange auf einen Kitaplatz warten und lebte alleine mit ihrer Mutter auf 15 Quadratmetern in einer dezentralen Flüchtlingsunterkunft.

TU-München-Projekt fördert und therapiert Flüchtlingskinder

Eine Studie der Technischen Universität (TU) München zeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen zu viel Zeit vor dem Bildschirm in frühen Jahren und Sprachverzögerungen sowie Verhaltensproblemen in späteren Jahren gibt. Um Kinder mit Fluchterfahrung besser zu fördern und zu therapieren, gibt es seit 2016 das Projekt "INCLUDE" des KBO-Kinderzentrums [externer Link]. Das Forschungsprojekt ist am Lehrstuhl für Sozialpädiatrie der TU München angesiedelt. Kinder mit Fluchterfahrung werden dort bei Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen therapeutisch behandelt, erklärt Projektleiterin Andrea Hahnefeld.

Außerdem bietet das Team um Hahnefeld in Anker-Dependancen der Regierung von Oberbayern ein "Parents College" an. In der Elternschule sollen Flüchtlinge lernen, wie sie ihre Kinder altersgerecht im Alltag fördern können, sagt Psychologin Hahnefeld. Weg vom Bildschirm hin zum Spielen, Malen und viel Kommunizieren. Traumatisierten Eltern falle es teils schwer, sich mit ihren Kindern sinnvoll zu beschäftigen. Die Psychologen versuchen darum auch, Kinderangebote in den Unterkünften zu etablieren. "Wo die Kinder einfach einen sicheren Raum bekommen, wo sie spielen können, wo sie das tun können, was einfach ihre Entwicklungsaufgabe ist."

Wissenschaftlerin warnt vor Folgekosten

Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten bei Flüchtlingskindern könnten nicht nur durch traumatische Ereignisse in ihrer Heimat oder auf der Flucht entstehen, so Hahnefeld. Sondern eben, auch wenn sie in Deutschland zu lange in einer nicht kindgerechten Umgebung wie Flüchtlingsunterkünften wohnten. Entwicklungsschritte in der frühen Kindheit prägten das ganze Leben. Eine ruhige, stressfreie Umgebung beeinflusse die Entwicklung eines Kindes positiv.

Daher warnt Psychologin Hahnefeld: "Wenn falsche Weichen gestellt werden, kann in diesem frühen Alter sehr viel versäumt werden. Das kann auch nicht mehr aufgeholt werden. Später verursacht es umso höhere Kosten." Eine schnelle Integration und Kontakt zu Bildungsangeboten seien für gute Startchancen in Deutschland besonders wichtig, so Hahnefeld. Dann könnte sich auch ein traumatisiertes Kind normal entwickeln. Diese Kinder hätten später weniger Probleme in der Schule und können zu Erwachsenen heranreifen, die Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen. Das belegen Studien.

Mehr Förderung mit Blick in die Zukunft

Die Realität in Bayern sieht allerdings oft anders aus: Knapp 12.000 Kinder im Alter bis zu sechs Jahren leben derzeit in bayerischen Asylunterkünften – meist über einen sehr langen Zeitraum. Der bayerische Caritas-Landesverband prangert besonders die mitunter prekäre Situation für Familien in den Ankereinrichtungen an. Es gebe häufig keine frühkindliche Bildung oder Frühförderung, so Migrationsreferent Stefan Wagner. Für Kindern, die noch nicht schulpflichtig seien und keinen Kitaplätz hätten, müsste es dringend eine entsprechende Betreuung und mehr Bildungsangebote geben – auch in den Anschlussunterbringungen: "Das ist eine Förderung in die Zukunft. Gerade wenn diese jungen Menschen in unserem Land bleiben und eine Ausbildung machen sollen."

Staatsregierung dementiert Vorwürfe

Das bayerische Innenministerium wehrt sich gegen die Vorwürfe: Das Ministerium unternehme zahlreiche Anstrengungen, um die Betreuung und Förderung der jüngeren Kinder in Asylunterkünften sicherzustellen, sagte eine Sprecherin dem BR. In allen Ankereinrichtungen gebe es kindgerechte Betreuungsangebote. Auch in der Anschlussunterbringung sei die Förderung durch die regulären Kindertageseinrichtungen gewährleistet.

Manessa hatte dieses Glück nicht. Zu lange lebte sie alleine mit ihrer Mutter – ohne Kontakt zu einem frühkindlichen Bildungsangebot. Nun aber blickt sie dank des "INCLUDE"-Projekts positiv in die Zukunft. Sie träumt davon, Informatikerin zu werden, genau wie ihre Mutter.

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