Montagmittag in der Münchner Innenstadt, es regnet in Strömen: Scherief und seine neunjährige Tochter Filistin laufen im Eilschritt zum Kindergarten. Sie wollen die jüngste Tochter Aalya abholen. Im Eingang bleibt Scherief kurz stehen, während Filistin nach ihrer Schwester schaut. Meistens sei die Vierjährige ein fröhliches Kind, sagt der Vater. Er hat sich in den letzten zwei Jahren bemüht, den Krieg im Gazastreifen von ihr fernzuhalten – vor allem die vielen grausamen Bilder. Aber ein bisschen was scheint sie trotzdem mitbekommen zu haben.
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Die eigene Herkunft auch als etwas Positives erleben
"Sie hat mich einmal gefragt, ob Kinder sich wünschen können zu sterben", sagt Scherief. Wie spricht man mit einer Vierjährigen darüber, dass im Gazastreifen Kinder in ihrem Alter sterben? Scherief entschied sich, nur allgemein über den Tod zu sprechen, der leider zum Leben gehört. Wie sehr der Tod gerade zu seinem und dem Leben vieler anderer Palästinenser gehört, auch hier in Bayern, hat er ihr nicht gesagt.
Die Palästinenser hätten sehr lebendige Traditionen, sagt Scherief. Der Deutsch-Palästinenser, der selbst in München geboren und aufgewachsen ist, will sie bewahren und an seine Kinder weitergeben – "weil wir in der Welt irgendwie entwurzelt sind".
Die Mädchen führen stolz ihre Trachten vor
Zu Hause in München-Schwabing soll Filistin eigentlich Hausaufgaben machen. Aber die beiden Mädchen führen lieber erstmal ihre palästinensischen Trachten vor: lange schwarze Kleider, aufwändig mit rotem und buntem Garn bestickt.
Scheriefs Vater kam in den 1950er Jahren aus Ostjerusalem zum Medizin-Studium nach Deutschland. Nachdem Israel 1967 seine Heimat besetzt hatte, kehrte er nie mehr dorthin zurück. Er habe es nicht ertragen, bei der Einreise von Soldaten gegängelt zu werden, die deutlich jünger und im Gegensatz zu ihm nicht dort geboren waren, erzählt Scherief.
Dialoggruppe: Trotz des Horrors das Mitgefühl nicht verlieren
Er selbst war bisher nur ein einziges Mal in der Heimat seines Vaters. Erst mit 35 hat er seine Verwandten dort kennengelernt. Wie etwa die Hälfte aller Palästinenser weltweit ist Scherief im Ausland aufgewachsen. Doch hier ist er in der palästinensischen Community gut vernetzt und politisch aktiv.
Während des Krieges war er regelmäßig am Protest-Camp vor der Münchner Uni, um ein Haar wäre er bei der Gaza-Hilfsflotte mitgefahren. Außerdem war er Teil einer israelisch-palästinensischen Dialoggruppe. Der Austausch hat ihm geholfen, nicht verrückt zu werden, sagt er. Und trotz des Horrors in Gaza auch das Mitgefühl für Israelis nicht zu verlieren, die durch den Terror des 7. Oktobers traumatisiert sind.
Nicht verrückt zu werden – das war während der letzten zwei Jahre ein täglicher Kampf, erzählt Scherief. Am Herd stehend wählt er die Nummer seines Freundes Ahmed. Der lebt im Gazastreifen. Während des Krieges wurde sein Haus bombardiert, er verlor seine Mutter.
Der Krieg hat Spuren hinterlassen - in Gaza, aber auch hier in Bayern
Das Handy klingelt und klingelt – aber Ahmed hebt nicht ab. "Aber zumindest weiß ich jetzt, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass er noch lebt." Vor ein paar Wochen hätte er in dieser Situation das Schlimmste befürchtet.
Der Krieg hat Spuren hinterlassen. Bei Ahmed, der laut Scherief vor zwei Jahren ein gutaussehender junger Mann war – und jetzt um Jahre gealtert scheint. Aber auch bei Scherief selbst, der den Krieg in München ständig am Handy mitverfolgt hat – und oft nachts wach lag. "Da war immer dieses Gefühl: Ich lege mich jetzt in mein Bett und dort werden die Leute unter ihren Häusern begraben."
Er ist erleichtert, dass nun weniger Bomben fallen und mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen kommen: Doch wirklich freuen kann Scherief sich über den Waffenstillstand am Montag nicht. Dafür ist der Frieden zu brüchig, das Leid im Gazastreifen noch viel zu groß.
Am Dienstagabend gehen die Bombardements wieder los
Nur einen Tag nach dem Gespräch zeigt sich, wie berechtigt die Sorge ist. Am Dienstagabend kommt die Eilmeldung: Nach Berichten über ein Feuergefecht hat Israels Premier Benjamin Netanjahu sofortige und schwere Angriffe im Gazastreifen angekündigt. Scherief schreibt eine Whatsapp: "Es war vorhersehbar und ist dennoch schmerzlich."
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