Am frühen Morgen des 2. Juni 2024 brach in Reichertshofen ein Damm. Binnen Minuten stand die oberbayerische 7.000-Einwohner-Gemeinde unter Wasser. Stromversorgung und Handynetz fielen aus, Bewohner signalisierten mit Laken ihren Hilfebedarf. Tagelang pumpten Anwohner ihre Keller leer – oft ohne Hilfe der überlasteten Einsatzkräfte.
Was in Reichertshofen geschah, steht beispielhaft für ein bayernweites Problem. Laut einer aktuellen Untersuchung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) trägt der Freistaat das bundesweit höchste Risiko für große Hochwasserschäden. 65.517 Wohnadressen sind demnach potenziell betroffen – mehr als in jedem anderen Bundesland. Die DUH stellt Bayern ein alarmierendes Zeugnis aus. Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen hätten sogar einen "extremen Risikograd". Nach der Hochwasserkatastrophe 2024, die mehrere Menschenleben forderte, rückt die Frage nach wirksamem Hochwasserschutz erneut in den Fokus.
Ausnahmegenehmigungen unter der Lupe
Warum trifft es Bayern besonders? Zwei Faktoren kommen zusammen, erklärt der Geograf Matthias Garschagen von der Ludwig-Maximilians-Universität München: große Flussläufe mit viel Abfluss aus dem Voralpenraum und der Siedlungsdruck in prosperierenden Regionen. "Neue Baugebiete in Hochwasserlagen machen diese Flächen besonders exponiert", warnt er.
Trotzdem wird weiter gebaut. In den vergangenen fünf Jahren wurden bayernweit bis zu 3.250 Ausnahmegenehmigungen für Bauvorhaben in Überschwemmungsgebieten erteilt – bei nur 66 abgelehnten Anträgen.
Thomas Karmasin, CSU-Landrat von Fürstenfeldbruck, verteidigt diese Praxis. Bayern sei relativ gewässerreich und dicht besiedelt, die Bauwünsche seien entsprechend groß. "Voraussetzung ist immer, dass der Hochwasserschutz nicht gefährdet wird. Jeder Einzelfall muss null Gefährdung aufweisen – hundertmal null bleibt null", betont er. Oft gehe es nicht um Neubaugebiete, sondern um kleine Maßnahmen wie Gartenhäuschen oder Treppen. Entscheidend sei die fachliche Prüfung durch das Wasserwirtschaftsamt. "Solange das Gesetz ein Recht auf Genehmigung gibt, müssen wir es umsetzen."
Staatsregierung: Hochwasserschutz "überragendes öffentliches Interesse"
Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) sieht Bayern gut gerüstet: "Wir liegen beim Flächenanteil im Vergleich der Bundesländer auf Platz sieben. Das muss man einordnen und sehen, dass die meisten Menschen in Bayern an der Donau leben – dort setzen wir gerade das größte Hochwasserschutzprogramm in der Geschichte des Freistaats um." Im Donauabschnitt 1 seien fast alle Maßnahmen abgeschlossen, tausende Menschen erhielten einen HQ100-Plus-Klimazuschlagschutz. HQ100-Plus bezieht sich auf ein 100-jährliches Hochwasser. "Wir fordern auch vom Bund, dass wir im Donauabschnitt 2 weiterbauen", so Glauber.
Bayern investiere jährlich 280 Millionen Euro in den Hochwasserschutz, so Glauber. "Wir geben ein Drittel des Budgets des Umweltministeriums für die Wasserwirtschaft aus, den größten Teil davon für Hochwasserschutz." Zudem bereite man eine Novelle vor, um den Hochwasserschutz als "überragendes öffentliches Interesse" zu fixieren. "Damit ist klar: Hochwasserschutz ist in Bayern nicht verhandelbar."
Karmasin sieht dennoch einen Zielkonflikt: "Einerseits wird gefordert, mehr Wohnungen zu bauen. Andererseits sollen Retentionsflächen freigehalten werden. Hochwasserschutz hat Vorrang, aber solange ein Vorhaben diesen nicht beeinträchtigt, gibt es keinen Grund, es generell zu verbieten."
Klimawandel verschärft die Lage
Der Klimawandel macht die Situation brisanter. "100-jährige Hochwasser treten häufiger als einmal im Jahrhundert auf", warnt Geograf Garschagen, der an der LMU zu Mensch-Umwelt-Beziehungen . Naturbasierte Maßnahmen wie die Renaturierung von Auen im Landkreis Traunstein gelten als Erfolgsmodelle. Doch insgesamt sei der Handlungsdruck in Bayern enorm.
Im Video: Hochwasser-Analyse - Bayern besonders gefährdet
(Symbolbild) Bayern ist deutschlandweit am stärksten hochwassergefährdet.
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