Gabriel ist fast fünf Jahre alt und lebt mit einer ausgeprägten Form von Autismus. Bis er zweieinhalb Jahre alt war, habe sich sein Sohn ganz normal entwickelt, erzählt Markus Baierl. "Sein erstes Wort war "heiß". Das hat ihm die Oma beigebracht." Dann habe es plötzlich einen Cut gegeben. Seitdem spricht Gabriel nicht mehr. Nimmt kaum Blickkontakt auf. Hat extreme Wutanfälle. Mit zweieinhalb Jahren wird bei ihm Autismus diagnostiziert.
Schnell wird klar: ein Regelkindergarten passt nicht. Was passen würde: ein Platz in Heilpädagogischen Tagesstätten (HPTs). In über zehn HPTs haben sich Gabriels Eltern laut eigener Aussage beworben. Jahrelang. Immer gab es nur Absagen. Denn: Viele verzweifelte Eltern suchen einen Platz. HPTs für Kinder mit geistiger Einschränkung, wie etwa Autismus, gibt es aber viel zu wenige in Bayern.
HPTs: Kleine Gruppen, spezialisierte Erzieherinnen
In Heilpädagogischen Tagesstätten gibt es sehr kleine Gruppen, Therapeuten und Psychologen arbeiten dort gemeinsam mit speziell ausgebildeten Erzieherinnen. In einer perfekten Welt, so sagt es Christiane Schneider von der Frühförderstelle Pasing bei der Lebenshilfe München, könnten die Eltern auswählen: Geben sie ihr autistisches Kind in eine Regeleinrichtung, oder in eine HPT?
Doch die Wahl haben die meisten Eltern nicht. Einen Rechtsanspruch hat man nur auf einen Regelkindergartenplatz. Und weil der nicht passt, lehnen Eltern solche Plätze immer wieder ab. Christiane Schneider rät: Plätze, auch wenn sie eigentlich nicht zum Kind passen, trotzdem annehmen. Denn sonst verlieren die Eltern ihren Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Und das dürfe nicht sein – es müsse Druck auf die Politik aufgebaut werden, fordert Christiane Schneider.
Für HPTs gibt es keinen Kita-Finder
Anders als Eltern gesunder Kinder, die in München etwa per KitaFinder-App auf Platzsuche gehen können, haben Eltern auf der Suche nach HPT-Plätzen diese Möglichkeit nicht. Markus Baierl etwa muss sich jedes Kalenderjahr auf jeden HPT-Platz neu und einzeln bewerben. Und weil das Angebot bei weitem nicht für alle reicht, landen viele Kinder auf der Warteliste. Alleine bei der Lebenshilfe in München warten derzeit 70 Kinder auf einen HPT-Platz.
Kein Überblick: Es fehlt eine Bedarfserhebung
Laut Bezirk Oberbayern gibt es knapp 3.000 HPT Plätze mit dem Schwerpunkt "geistig" in Oberbayern. Dass die nicht reichen, bestreitet niemand. Wie viele es bräuchte, weiß allerdings keiner – denn diese Zahlen werden nicht erfasst.
Der Bezirk Oberfranken schreibt dem BR, dass "es keine zentrale Stelle gibt, die die Anfragen und damit auch die ungedeckten Anfragen an HPT-Plätzen erfasst." Und der Bezirk Schwaben schreibt: "Zu einer Belegung der verbleibenden Plätze können wir als Bezirk Schwaben leider keine Auskunft geben, da die Tagesstätten die verfügbaren Plätze eigenständig vergeben."
Begründung Bezirk Oberbayern: Bedarfserhebung zu aufwändig
Warum aber werden die Daten nicht zentral gesammelt, in der Folge ausgewertet und dann entsprechende politische Schlüsse gezogen? Der Bezirk Oberbayern schreibt dazu, die Erhebung würde "sowohl bei den Einrichtungen als auch in der Bezirksverwaltung zusätzliche personelle Ressourcen binden. Angesichts der knappen Fachkräfte in der Praxis und dem Bestreben, Bürokratie nicht weiter auszubauen, wurde bislang davon abgesehen, diesen Schritt zu gehen."
Apropos Fachkräfte: der Mangel an ausgebildetem Fachpersonal ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb es zu wenige HPT Plätze gibt.
Lösungsvorschlag: eine Stunde Kindergartenbesuch am Tag
Bis sich die Situation bei HPT-Plätzen ändert, wünscht sich Christiane Schneider mehr Flexibilität bei den Buchungszeiten von Integrativkindergärten. Bislang gelte: Platz oder nicht. Weil Kinder am besten von Kindern lernen, insbesondere was soziales Verhalten betrifft, wäre aber schon viel geholfen, wenn autistische Kinder wenigstens eine Stunde einen Kindergarten besuchen dürften.
Trotz Platzzusage für Gabriel: Kampf noch nicht zu Ende
Gabriels Eltern haben sich in ihrer Verzweiflung einen Anwalt genommen. Der hat sie nun erfolgreich in einen "normalen" Kindergarten eingeklagt. Dort belegt Gabriel ab September einen "Integrativplatz". Zumindest theoretisch. Denn Gabriel darf erst eingewöhnt werden, wenn die Eltern ihm auch einen Individualbegleiter organisiert haben. Der soll Gabriel im Kindergarten pädagogisch unterstützen. Nur: Den muss sich Familie Baierl selbst organisieren. Und auch bei Individualbetreuern herrscht Fachkräftemangel.
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