Winter 2022: Der leidenschaftliche Skifahrer Ansgar Lipecki ist mit seiner Familie auf der Piste in Südtirol unterwegs. "Zwischen mir und meinem Sohn war absolut freie Anfängerpiste, wunderbare Verhältnisse", erinnert er sich. Plötzlich ein Einschlag. Ein Junge, der aus dem Tiefschnee kommt, fährt ihn um. Lipecki stürzt schwer und muss reanimiert werden.
"Ich habe über mir geschwebt"
Doch während seine Familie um ihn bangt und Sanitäter um sein Leben kämpfen, erlebt auch Lipecki etwas. "Ich bin über mir geschwebt und habe mich im Schnee liegen sehen, meine Frau und die anderen, die sich um mich gekümmert haben." Dann sieht er ein Licht, eine weiße Substanz. Ein Gefühl absoluter Glücksseligkeit - bis er wieder in seinen Körper schlüpft. "Ich kann nur sagen, ich habe über mehrere Minuten meinen Sterbeprozess miterlebt und habe da ganz schlimme Erfahrungen gemacht", so Lipecki. Johanna Maria Nientiedt nickt verständnisvoll.
Selbsthilfegruppe existiert seit einem Jahr
Die 63-Jährige leitet seit gut einem Jahr eine Selbsthilfegruppe zum Thema Nahtod- und Grenzerfahrungen in Burghaslach (Landkreis Neustadt an der Aisch-Bad Windsheim). Das vergangene Jahr hat ihr gezeigt, wie wichtig der Austausch für Betroffene ist: "Manchmal kommen Menschen, die selber gar nicht vermuten, dass sie eine Nahtoderfahrung gemacht haben, die nicht genau wissen, ob sie nicht womöglich verrückt geworden sind".
Die Gruppe sei gemischt – alt, jung, verschiedene Berufe. Nientiedt beschäftigt das Sterben schon lange. Sie ist gelernte Krankenschwester, arbeitete im Hospiz und hält Vorträge. Sie selbst machte mehrere Erfahrungen, die sie als Grenzerfahrung einordnet. Bei einer tiefen Meditation, so erzählt sie, löste sich ihr Bewusstsein in einem riesigen Licht auf.
Diverse Studien zum Thema Nahtod
Die Wissenschaft kann solche Erlebnisse bis heute nicht beweisen. Doch es gibt Studien, die Hinweise auf mögliche Erfahrungen Sterbender geben. So hat der holländische Kardiologe Dr. Pim van Lommel für eine Studie Patientinnen und Patienten an verschiedenen Kliniken nach einer Wiederbelebung befragt. Etwa jeder Fünfte berichtete von einer Nahtoderfahrung. Die University of Michigian untersuchte die Hirnaktivität von Sterbenden. Die Anfang 2024 veröffentlichten Ergebnisse zeigten: Im Hirn von manchen Menschen gab es nach deren klinischem Tod ein wahres Feuerwerk der Aktivitäten im EEG.
Betroffener: "Esoterisch und abstrus"
Dass es keine Beweise für die Erfahrungen gibt, macht es für die Betroffenen noch schwerer, sagt Nientiedt. "Ich hatte sie immer im Kopf, aber ich habe mich nie getraut, mich darüber zu äußern. Selbst mir gegenüber. Weil das doch sowas von abstrus und esoterisch ist, dass ich als normalsterblicher Mensch mich damit überhaupt nicht befassen wollte", erklärt Lipecki. Auch wenn er in seinem Umfeld Unterstützung erfahre - Sätze wie "Du bist doch verrückt, du halluzinierst", hört er immer wieder.
Anlaufstellen für Menschen mit Nahtoderfahrungen sind rar
Hinzu kommt: Anlaufstellen für Menschen mit Nahtoderfahrungen gibt es kaum. Das zeigt schon eine einfache Google-Suche. Ansgar Lipecki stößt schließlich auf die Selbsthilfegruppe von Johanna Nientiedt und fühlt sich dort verstanden. So sehr, dass er in seiner Heimatstadt Würzburg selbst eine solche Gruppe gründet. Der Andrang sei groß, das bestätigen beide Gruppenleiter.
Neue Sicht aufs Leben und die Welt
Auch wenn die Nahtoderfahrungen wissenschaftlich nicht beweisbar sind: Im Leben der Betroffenen ändern sie oft alles. "Meine Lebenseinstellung hat sich dahingehend verändert, dass materielle Dinge ganz wenig Raum einnehmen", sagt Lipecki. Neue Kleidung, der Traumwagen, all das spiele für ihn keine Rolle mehr. "Es geht darum, glücklich zu sein, jeden Moment glücklich zu sein."
Auch Johanna Nientiedt lebt seit ihren Grenzerfahrungen bewusster. Und sie hat ihre Angst vor dem Tod verloren, die da war, seit sie ein kleines Mädchen war. "Da steckt so viel Hoffnung drin, wenn man Menschen diese Angst vor dem Tod, die ich ja massiv erfahren hab, nehmen kann. Dann kann ganz anders gelebt werden."
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