Lange Zeit war der Ehrenvorsitzende der CSU, Horst Seehofer, nicht vor einer Kamera zu sehen. Im Interview mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers spricht der 75-Jährige fast vier Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Politik über die Regierungszeit unter Altkanzlerin Angela Merkel - und übt heftige Kritik.
Zum Migrationskurs der Ex-Kanzlerin sagt Seehofer rückblickend: "Auch wenn sie es heute noch nicht so sieht wie ich, das war ein großer Fehler." Der zweite Fehler besteht aus Sicht Seehofers darin, dass Merkel ihren Irrtum bis heute nicht zugeben wolle.
Eine Wende der Migrationspolitik könne nur die CSU schaffen. Denn sie stand laut Seehofer schon immer für eine Begrenzung der Zuwanderung, "damit die Aufgaben im Inland noch gelöst werden können: für die Kitas, für die Schulen, für die Mieten, für die Wohnungen, in der Kriminalität, in der Integration."
"Fatale Fehlentscheidung von Angela Merkel"
Im Gespräch mit dem BR äußert sich Seehofer kritisch zum damaligen Migrationskurs und sieht einen Zusammenhang zum Erstarken der AfD: "Seit der fatalen Fehlentscheidung von Angela Merkel 2015, die Grenzen aufzumachen oder durchlässig zu machen, haben wir das Aufwachsen der AfD. Sie sind dann in alle Parlamente eingezogen." Merkels These, sie habe die AfD nicht verdoppelt, findet Seehofer "bissel schräg". Im Interview konkretisiert er seine Kritik:
Das Problem war die Haltung von Kanzlerin Merkel, dass sie eine Zurückweisung an der Grenze von Asylbewerbern nicht wollte, also abgelehnt hat. Das war damals ihre Meinung und die vertritt sie ja heute noch. […] Da können Sie Innenminister sein, so lange Sie wollen: Wenn der Kanzler diese Grundlage nicht mitträgt, können Sie nichts machen. […] Und jetzt ist es mit Friedrich Merz und Alexander Dobrindt machbar.
Im Video: Horst Seehofer im Kontrovers-Interview
Es geht darum, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, sagt der CSU-Grande, und setzt große Hoffnungen in Bundeskanzler Friedrich Merz.
Seehofer: "Wir schaffen es nicht mehr"
Teile der Ampelkoalition hätten die Willkommenskultur noch weiterbetrieben, so Seehofer. "Sie kriegen die AfD nicht durch Demonstrationen oder durch Verbotsüberlegungen wieder klein, sondern nur durch eine gute Politik, die das Vertrauen der Bevölkerung bekommt", prognostiziert der frühere CSU-Chef.
Mit Blick auf die Integration in Deutschland zieht Seehofer ein nüchternes Fazit: "Wenn wir Millionen plötzlich an Zuwanderung haben, wie es jetzt die letzten zwei Jahre war, aber auch 2015 und 2016, dann stellen wir fest, dass wir es einfach nicht mehr schaffen."
Große Hoffnungen auf Regierung Merz
Der richtige Weg, die AfD zurückzudrängen, ist für Seehofer die demokratische Auseinandersetzung. Auf das jüngste Gutachten des Bundesverfassungsschutzes zur AfD blickt er kritisch. Die Behörde sei auch nicht total unabhängig, so der Ex-Politiker. Er erhofft sich einen Aufbruch von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU):
Ich habe die große Hoffnung im Herzen, dass die neue Regierung unter Friedrich Merz eine gute Politik macht, von der Wirtschaftspolitik bis zur Sozialpolitik, die dazu führt, dass die Leute sagen: 'Wir haben Vertrauen zu denen, die AfD brauchen wir nicht mehr.'
Der Kanzler, so Seehofer, sei sehr stark gestartet in seinem Aufgabenbereich. "Das freut mich, weil ich seit Monaten immer für den Friedrich Merz als Bundeskanzlerkandidat war." Auch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt wird von Seehofer gelobt.
Aktuelle Grenzkontrollen: eine "Überbrückungsmaßnahme"
Mit Blick auf die Migrationswende hält Seehofer Grenzkontrollen allein für nicht ausreichend: "Kürzlich sagt mir jemand auf der Straße: 'Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn man so kritisiert wurde wie Sie? Und jetzt wird genau das gemacht, was Sie gesagt haben.' 'Ja', sage ich, 'das ist manchmal in der Politik so.' Sie müssen manchmal warten, bis die Politik wieder mit Ihren Überzeugungen zusammenstimmt. Und da sind wir jetzt auf einem guten Weg. Aber das ist nicht ausreichend."
Die von Dobrindt eingeführten und durch Merz sowie den Koalitionspartner mitgetragenen Grenzkontrollen sind laut Seehofer "eine Überbrückungsmaßnahme, bis die Außengrenzen in der Europäischen Union kontrolliert werden und dort entschieden wird, wer einreisen darf."
"Man muss diskutieren: Wie wird Schengen in Zukunft wirksamer gestaltet?"
Viele nun zurückgewiesene Menschen dürften laut dem ehemaligen Ministerpräsidenten gar nicht erst an bayerische Grenzen ankommen: "Schengen setzt ja voraus, dass an der Außengrenze des Schengen-Raums kontrolliert wird und solche Leute dann gar nicht bis zur Bundesrepublik Deutschland kommen. Das ist aber dann die Mehrzahl, die zurückgewiesen wird."
Es müsse darüber diskutiert werden, wie Schengen in Zukunft wirksamer gestaltet werde. "Ich bin jetzt froh, dass nach zehn Jahren Diskussion die amtierende Regierung, jedenfalls der Unionsteil in der amtierenden Regierung, da eine klare Position vertritt", sagt Seehofer im Kontrovers-Interview. In der Union sei das damals, auch wegen Merkel, keineswegs selbstverständlich gewesen.
Indirekte Kritik an Nachfolger Söder
Im Interview äußert Seehofer auch indirekt Kritik an seinem Nachfolger Markus Söder. Zu dessen Äußerung der "letzten Patrone", die der Demokratie in Deutschland noch bleibe, sagt Seehofer: "Da kann ich nur den Kopf schütteln: 'Ein Hauch von Weimar', 'das war jetzt die letzte Chance' - das ist ja so eine Weltuntergangsstimmung, die ich überhaupt nicht teile."
Zu Söders Social-Media-Auftritten sagt Seehofer zurückhaltend: "Jeder Politiker hat seinen Stil und seine Inhalte." Die Wahlergebnisse der CSU unter Söder hält Seehofer für zu gering: "Wir schaffen es jedenfalls bei keiner Landtags- und bei keiner Bundestagswahl - bisher - die 40 Prozent zu wuppen. Und miteinander sind wir [als Union] bei der Bundestagswahl bei 28,5 Prozent gewesen."
"Vergesst mir die kleinen Leute nicht" - gilt noch immer
Sein einstiger Appell, "Vergesst mir die kleinen Leute nicht", ist Seehofer noch immer wichtig. Entsprechend nachdenklich blickt der CSU-Ehrenvorsitzende auf die wirtschaftliche Situation: "Die soziale Marktwirtschaft hat uns Wohlstand und diese Aufwärtsentwicklung in Deutschland gebracht, auch den Aufstieg kleiner Leute in höhere Positionen", sagt Seehofer. Dazu gehöre aber der soziale Ausgleich:
[…] Dass die Leute, die mithelfen durch ihre Arbeit, dass die Wirtschaft wieder prosperiert, auch teilhaben an dieser Entwicklung durch Löhne oder auch durch die eine oder andere Sozialleistungen, gerade für Familien und Kinder, das ist besonders notwendig.
Wenn die Balance aus wirtschaftlicher Dynamik und der Teilhabe der "kleinen Leute" stimmt, "dann ist Zufriedenheit in der Bevölkerung", so Seehofer.
Selbstkritische Töne mit Blick auf Bildungspolitik
Doch im Interview mit dem BR-Politikmagazin schlägt der frühere Ministerpräsident auch selbstkritische Töne mit Blick auf die eigene Politik an: "Was ein ganz großes Thema für mich wäre, was ich auch als Ministerpräsident nicht mehr wirklich geschafft habe, ist die Bildungsgerechtigkeit." Nämlich, dass auch junge Leute aus schwierigen sozialen Verhältnissen die Chance zu einem Abschluss bekämen.
Wenngleich er wisse, dass der Bund nicht zuständig sei für die Bildungspolitik, müsste der Bund trotzdem initiieren, dass das Problem der fehlenden Bildungsgerechtigkeit überwunden werde, so Seehofer. Und weiter: "Denn […] wenn so viele junge Leute keinen Schulabschluss oder Berufsabschluss haben, dann ist dies ein Sprengstoff für die Zukunft einer Gesellschaft."
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