Ein Stadtbild ist die Ansicht, die eine Stadt im Ganzen bietet. So steht es im Duden. Doch das meinte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nicht, als er vergangene Woche sagte: "Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen." Die Frage, wie er dies gemeint habe, beantwortete er mit: "Fragen Sie mal Ihre Töchter."
Merz: "Unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes"
Inzwischen konkretisierte Merz noch einmal: Es brauche auch in Zukunft Einwanderung, sagte der Kanzler in London: Bereits heute seien viele Menschen mit Migrationshintergrund "unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes". Zugleich sagte der Kanzler, Probleme machten diejenigen, "die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, nicht arbeiten und sich auch nicht an unsere Regeln halten".
Flüchtlingsrat: "Nahe dran an Remigrationsfantasien von AfD"
Jeder fünfte Bewohner in Bayern hat einen Migrationshintergrund [externer Link] – viele dieser Menschen, aber auch Verbände äußerten sich entsetzt über die "Stadtbild"-Aussagen: Die abfälligen Bemerkungen allein seien schlimm genug und beleidigend, so der Bayerische Flüchtlingsrat. "Der Hinweis, dass Innenminister Dobrindt das Problem mit mehr Abschiebungen beheben könne, ist sehr nahe dran an den Remigrationsfantasien von AfD und Co. Ein Kanzler mit solchen Aussagen ist nicht 'Mitte', sondern sehr weit rechts."
AGABY, der Dachverband der Kommunalen Integrationsbeiräte in Bayern, spricht von einer "Sündenbockpolitik". Die Aussagen seien "ein Schlag ins Gesicht aller Migrantinnen und Migranten, die Teil dieser Gesellschaft und damit des Stadtbildes sind", so die Vorsitzende Mitra Sharifi.
Imam Idriz: Aussagen haben viele Menschen verletzt
Ähnlich äußert sich Benjamin Idriz, Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg. Die Aussage habe "viele Menschen mit Migrationsgeschichte verletzt, weil sie den Eindruck vermittelt, dass sichtbare Vielfalt ein Problem sei". Es sei bedauerlich, "wenn politische Verantwortungsträger eine Sprache verwenden, die spaltet, statt verbindet".
Zwar habe Merz das unverzichtbare Potenzial von Migrantinnen und Migranten als Arbeitskräfte betont, "doch sie sind weit mehr als das: Sie sind auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Unternehmerinnen, Lehrer, Ärztinnen und aktive Bürgerinnen und Bürger dieses Landes". Für Idriz ist klar: Gesellschaftliche Probleme seien nicht ethnischer, sondern sozialer und wirtschaftlicher Natur. Dafür müsse man gemeinsam Lösungen finden.
Münchner Migrationsbeirat: Aussagen treffen "mitten ins Herz"
Die Vorsitzende des Münchner Migrationsbeirats, Dimitrina Lang, sagt: "Solche Aussagen treffen mich persönlich – und viele Menschen in unserer Stadt – mitten ins Herz. Denn sie sprechen uns das Gefühl ab, dazuzugehören." Azad Yusuf Bingöl, Mitglied im Migrationsbeirat München, sagte: Es sei erschreckend und skandalös, dass Merz sich ein Stadtbild wünscht, "indem Menschen, die aussehen wie ich, unsichtbar sein sollten oder konkreter gesagt, verschwinden sollen". Der kurdischstämmige Bingöl findet: Eigentlich müsste "der Bundeskanzler für solche Aussagen zurücktreten".
Viele Bürgerinnen und Bürger sind besorgt: Mohammed, Taxifahrer in München, überlegt inzwischen, ob er auswandern soll. "Wenn sowas von ihm (Redaktion: Merz) kommt, dann kommt es irgendwann noch schlimmer und wir haben Angst um unsere Zukunft", sagt der aus dem Nordirak stammende Familienvater, der seit rund 20 Jahren in Deutschland lebt.
"Ich bekomme Angst, in Deutschland zu bleiben"
Auch eine 55 Jahre alte deutsche Muslima fühlt sich zunehmend unsicher und denkt über Auswandern nach: "Ich habe Angst vor Gewalt gegen Migranten und als Migranten verstandene Menschen und ich denke, dass Merz leider den Weg in diese Richtung ebnet." Die Aussagen von Merz empfindet sie "als Anbiederei an die AfD". Der 53 Jahre alte Ergün Erdogan aus München kritisiert die Wortwahl des Kanzlers. "Viele fühlen sich beleidigt." Man könne nicht alle über einen Kamm scheren.
Widerspruch im Netz
Ahmet, der vor mehreren Jahren mit seiner Frau von Istanbul nach München gezogen ist, betont: Die Äußerungen machten ihn traurig. Aber er sei froh, dass es Widerspruch gebe, auf den Straßen und in den sozialen Medien – teils auf humorvolle Weise: Der Comedian Cossu spielt zum Beispiel einen jungen Mann, der zwar Dialekt spricht, Deutsch studiert hat, hier geboren wurde und trotzdem als "Problem im Stadtbild" wahrgenommen wird. Seine Lösung: Das Weltbild muss sich ändern.
In einem anderen Video läuft eine Gruppe junger Männer zu Latino-Musik durch die Straßen: "Die Jungs und ich auf dem Weg, das Stadtbild zu ruinieren" - und sie schicken "Grüße an Habibi Merz".
Zum Audio: Merz äußert sich nach Kritik in London
Merz äußert sich nach Kritik. (Archivbild)
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