Wenn sich Kardinal Reinhard Marx zu Wort meldet, dann selten zur Tagespolitik. Kirche müsse sich aber einmischen, wenn es um "Grundprinzipien" gehe, sagt er. Im Interview der BR-Sendung STATIONEN (Mittwoch, 22.10.19 Uhr im BR-Fernsehen) benennt der Münchner Erzbischof nun einige "rote Linien", die Politik und auch Kirche aus Sicht der christlichen Soziallehre nicht übertreten dürften.
"Da müssen wir sehr genau darauf achten, dass wir da nicht auf die abschüssige Bahn kommen und im Grunde zu Ungerechtigkeit und zu unsolidarischem Verhalten ermuntern." Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising
Stadtbild-Debatte: Kulturelle Vielfalt muss sichtbar sein
Im Interview, das bereits am 13. Oktober aufgezeichnet wurde, äußert sich der Wirtschafts- und Sozialethiker auch zur "Stadtbild-Debatte". Also noch bevor Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Zusammenhang mit Migration von einem "Problem" im "Stadtbild" sprach. Ende September schon aber hatte CSU-Chef Markus Söder im Münchner Merkur gesagt, "das Stadtbild" müsse sich wieder "verändern", es brauche "einfach mehr Rückführungen". Auf dieses Söder-Zitat angesprochen antwortet Kardinal Marx, es gehe nicht darum "jetzt einfach zu sagen, wer ist in einer Fußgängerzone?Sondern: Sind unsere Städte vital, vielfältig oder gibt es bestimmte Problemviertel".
Der Versuch, eine "lebenswerte Stadt zu entwickeln" sei unabhängig davon zu betrachten, ob jemand Ausländer sei: "Da können Deutsche wohnen, da können Ausländer wohnen." Nach Ansicht des Münchner Erzbischofs gibt es bei der Stadtplanung und Stadtentwicklung mancherorts Nachholbedarf: "Das Stadtbild muss sich positiv verändern, dass die kulturelle Vielfalt auch sichtbar wird und, dass das in Frieden und Toleranz geschieht." Seine Vorstellung: "Dass sich die bürgerlichen Kreise und die anderen zusammentun" und, dass "nicht nur bestimmte Schichten irgendwo leben", so der Kardinal.
Marx fordert Sondervermögen für Migration und Bildung
In der gesamten Migrations- und Integrationspolitik warnt Marx die politisch Verantwortlichen eindringlich davor, "in Populismus" abzurutschen "oder in einfache Lösungen", denn das funktioniere auf Dauer nicht. Es ärgere ihn, "dass das ganze Migrationsthema wie ein Bedrohungsszenario entfaltet wird". Das Gegenteil sei der Fall: Deutschland brauche Migration, sei "ein Einwanderungsland". Einst Geflüchtete würden inzwischen sozialversicherungspflichtigen Jobs nachgehen und dazu beitragen, "dass unser Sozialstaat überhaupt überlebensfähig ist", so der Kardinal.
Um Migration als "Chancenthema" zu nutzen, schlägt er "ein Sondervermögen" ähnlich dem für Verteidigung und Infrastruktur vor. Dabei hat er besonders die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen im Blick. "Diese Kinder werden in 20 Jahren da sein, sie werden arbeiten, sie werden Lehrer sein, sie werden Ärzte sein". Marx ist auch deshalb überzeugt: Ein ausländerfeindliches Klima hierzulande sei "nicht nur moralisch verwerflich, sondern ökonomisch auch unvernünftig".
Sozialstaatsfinanzierung: Steuererhöhung "nicht tabu"
In der Debatte um die Finanzierung des Sozialstaats schließt Marx höhere Steuern auf Erbschaften oder eine Vermögenssteuer nicht aus. "Grundsätzlich hat die katholische Soziallehre nie Bedenken gehabt, hohe Steuersätze zu sehen". Niemand dürfe "sein Häuschen verlieren". Aber bei Eigentum, das in den Konsum gehe, "da kann man eher zugreifen", findet Marx. Der Kardinal weist auch auf die gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland hin. "Da sollte die Politik schon genau darauf schauen, dass sie das im Sinne der Solidarität im Blick hat."
Beim Nachfolger des Bürgergeldes – der neuen Grundsicherung – mahnt der Vorsitzende der bayerischen Bischofskonferenz, mehr zu tun, "um auch Menschen Arbeit zu ermöglichen". Die Grundsicherung dürfe nicht das Ende sein, sonst drohe den Menschen Altersarmut. Die Diskussion, was mit Menschen, die sich total verweigern würden, zu tun sei, dürfe man gleichwohl führen. "Das ist aber eine ganz kleine Zahl, sagen uns die Verantwortlichen der Jobcenter", so Marx.
Sorge um "brüchige Demokratie"
Besorgt zeigt sich Kardinal Marx im STATIONEN-Gespräch um den Zustand der Demokratie. Diese sei "prekär". Er verweist darauf, dass die Zeiten zerbrechlicher würden, "ausgehend von Kriegen, ausgehend vielleicht auch von Spaltungen ökonomischer Art". Die Demokratie sei keine "g'mahde Wiesn", deshalb müssten sich "alle engagieren", so der Appell des Erzbischofs von München und Freising.
Im Video: Umfrage zum "Stadtbild"
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