Die beiden Mitglieder der Betroffenengruppe, Georg Rieperdinger (links) und Johannes Koch (rechts) sowie Projektleiterin Judith Dubiski.
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Die beiden Mitglieder der Betroffenengruppe, Georg Rieperdinger (links) und Johannes Koch (rechts) sowie Projektleiterin Judith Dubiski.

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Studienseminar Traunstein startet Missbrauchsstudie

Studienseminar Traunstein startet Missbrauchsstudie

Am erzbischöflichen Studienseminar Sankt Michael in Traunstein soll es früher zu Gewalt und spirituellem Missbrauch gekommen sein. Nun wird die Geschichte aufgearbeitet. Ehemalige Seminaristen und Mitarbeiter sind aufgerufen sich zu melden.

Über dieses Thema berichtet: Abendschau - Der Süden am .

Das erzbischöfliche Studienseminar Sankt Michael ist heute ein modernes Internat für rund 40 Jungen, die in Traunstein zur Schule gehen und im Studienseminar individuell gefördert und begleitet werden. Mit dem, was der heute 57-jährige Georg Rieperdinger hier vor mehr als 40 Jahren erfahren musste, hat das Internatsleben heute nichts mehr zu tun. "Zum Glück", sagt er. Denn als er Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre als Bub im Studienseminar wohnte, habe er massive körperliche und psychische Gewalt erfahren. Knapp 200 Seminaristen besuchten damals das Traunsteiner Studienseminar. Betreut wurden sie von einer Ordensfrau und vier Priestern.

Herabwürdigung war das Schlimmste

Schläge, Kopfnüsse oder Ohrfeigen zur Bestrafung seien für ihn "noch nicht einmal das Schlimmste" gewesen. "Ich will die Gewalt nicht kleinreden", sagt Rieperdinger. Aber was ihn bis heute belaste, seien die gezielten Demütigungen und Herabwürdigungen durch die Erzieher, "die Entwertung von Schülern, die – aus welchem Grund auch immer – auf der Abschussliste waren".

Auf der "Abschussliste", erinnert sich Georg Rieperdinger, sei er gelandet, nachdem er in der siebten Klasse Französisch statt das fürs Theologiestudium nötige Altgriechisch gewählt und klar gesagt habe: "Ich werde kein Priester", obwohl damals alles auf eine geistliche Laufbahn ausgerichtet gewesen sei.

Papst Benedikt war ehemaliger Internatsschüler

Das erzbischöfliche Studienseminar war 1929 vom Münchner Erzbischof, Kardinal Michael von Faulhaber gegründet worden. Ziel war es, Jungen aus dem überwiegend bäuerlichen Chiemgau mit einem Internatsplatz den Zugang zu den höheren Schulen in Traunstein zu ermöglichen. Aber es ging auch darum, priesterlichen Nachwuchs zu rekrutieren. Ein Konzept, das aufging: Berühmtester ehemaliger Bewohner des Internats ist Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt.

"Die religiöse Erziehung war im Alltag durchgehend spürbar", erzählt Georg Rieperdinger, "und es ging immer um die Frage: Bin ich berufen zur Nachfolge Jesu?" Als er andere Interessen entwickelte, sei er zur Zielscheibe von Mobbing durch den damaligen Direktor geworden, der ihn bewusst diffamiert und als schlechtes Beispiel hingestellt habe, ist Rieperdinger überzeugt. Lebenslange Selbstzweifel und ein zertrümmertes Glaubensleben seien für ihn die Folge. "Er hat mir durchgehend vermittelt, du taugst von Grund auf nichts." Einem versetzungsgefährdeten Mitschüler soll der Priester gesagt haben, er verhelfe dem Jungen zum Abitur, wenn dieser ihm im Gegenzug verspreche, Priester zu werden.

Vorwürfe bereits 2020 gemeldet

Wenn ein Geistlicher Schutzbefohlene derart manipuliert, ist von spirituellem Missbrauch die Rede. Georg Rieperdinger und weitere Betroffene haben ihre Vorwürfe bereits 2020 beim Erzbistum München und Freising gemeldet. Massiv beschuldigt wird unter anderem der spätere und inzwischen verstorbene Münchner Weihbischof Engelbert Siebler. Das Studienseminar nehme die Vorwürfe sehr ernst, sagt Internatsdirektor Wolfgang Dinglreiter. "Wir stehen zu dieser Schattenseite unserer Geschichte." Ihm sei es wichtig, dass Betroffene endlich Gehör finden und ihnen Gerechtigkeit widerfahre. Deshalb habe das Studienseminar, auf Anraten der Betroffenen, das unabhängige Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt mit der Aufarbeitung der Vorfälle beauftragt. Finanziert wird die Studie vom Erzbistum München und Freising.

Ehemalige Schüler und Mitarbeiter sollen sich melden

Anhand von Archivmaterial und Interviews will ein Forscherteam untersuchen, welche Strukturen damals Gewalt begünstigten. Deshalb rufen sie nun ehemalige Schüler und Mitarbeiter aus der Zeit zwischen Mitte der 60er und Mitte der 80er Jahre auf, sich zu melden. Vorfälle sexualisierter Gewalt durch Kleriker am Studienseminar seien bisher nicht bekannt, so Studienleiterin Judith Dubiski. Man wisse nur von einem sexuellen Übergriff auf einen Seminaristen außerhalb des Internats durch einen Ordensmann. Als der Bub daraufhin bei der Internatsleitung um Hilfe bat, habe diese nichts getan. Man könne nichts ausschließen, so Dubiski.

Georg Rieperdinger hofft, dass andere Betroffene den Mut finden, sich zu melden. "Es ist sehr hilfreich, zu erleben, dass hier eine Offenheit vom Erzbistum und vom Studienseminar da ist, diesen belastenden Erfahrungen Raum zu geben."

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